Die Zahl der Toten nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist auf mehr als 20.000 gestiegen. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad am Donnerstagabend berichtete, liegt die Zahl allein für die Türkei nun bei 17.134. Aus Syrien wurden zuletzt 3.317 Tote gemeldet. Unter den Tausenden eingestürzten Gebäuden sind aber vermutlich noch Zehntausende Erdbebenopfer zu befürchten.
Zu den Toten kommen um die 70.000 Verletzte. Nach mehr als drei Tagen und dem Richtwert von 72 Stunden, die ein Mensch eigentlich höchstens ohne Wasser auskommen kann, schwand die Hoffnung auf weitere Überlebende, auch wenn es vereinzelt Meldungen von Geretteten nach über 80 Stunden gab.
Nach Einschätzung von Fachleuten könnte die Zahl der Toten nach der Erdbebenkatastrophe erheblich steigen. Schnelle Hochrechnungen auf Basis empirischer Schadensmodelle ließen bis zu rund 67.000 Todesopfer erwarten, teilte am Donnerstag Andreas Schäfer vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit.
Die bittere Kälte in der Region sowie die politische Lage im Bürgerkriegsland Syrien verschärfen zusätzlich die Lage. Dort erreichte am Donnerstag ein erster Hilfskonvoi der Vereinten Nationen die Rebellengebiete. Aktivisten in Syrien berichteten, es handle sich um Hilfslieferungen, die schon vor dem Erdbeben geplant und nur davon aufgehalten worden seien. Dringend benötigte Ausrüstung für die Rettungsteams in Syrien sei deshalb nicht angekommen - stattdessen Güter wie etwa Waschmittel. "Das ist sehr enttäuschend und beschämend", sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, der dpa.
Die ohnehin schwierige Lage für Rettungskräfte und Hilfslieferungen wird in Syrien zusätzlich durch die politisch heikle Situation erschwert. Das Katastrophengebiet ist dort in von Damaskus kontrollierte Gebiete und Territorien unter der Kontrolle von Rebellen geteilt. Hilfsgüter gelangen lediglich über einen offenen Grenzübergang von der Türkei aus in die betroffenen Gebiete im Norden des Landes - und bisher war befürchtet worden, dass Machthaber Baschar al-Assad die Lieferungen nur in Gebiete unter Kontrolle seiner Regierung lässt.
Angesichts der nur schwer erreichbaren Erdbeben-Opfer im Nordwesten Syriens verlangte UN-Generalsekretär António Guterres die Öffnung weiterer Grenzübergänge aus der Türkei. "Wir brauchen massive Unterstützung, und deshalb würde ich mich natürlich sehr freuen, wenn der Sicherheitsrat einen Konsens erzielen könnte, um die Nutzung von mehr Übergängen zuzulassen, da wir auch unsere Kapazität erhöhen müssen", sagte Guterres am Donnerstag in New York.
Drei Tage nach dem verheerenden Beben der Stärke 7,8 ist das ganze Ausmaß der Zerstörungen nicht abzusehen. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten bis zu 23 Millionen Menschen von den Folgen des Bebens betroffen sein. Sie befürchtet vor allem, die Rückkehr der Cholera vor wenigen Monaten im Bürgerkriegsland Syrien könnte sich nun zu einer Epidemie ausweiten.
Rettungskräfte in beiden Ländern versuchten bei weiter eisigen Temperaturen verzweifelt, noch mögliche Überlebende zu finden. Die Suche wird aber immer mehr zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Aus den Erfahrungen vergangener Katastrophen ist bekannt, dass ungefähr nach 72 Stunden die Wahrscheinlichkeit, noch Überlebende zu finden, dramatisch sinkt. Diese Zeitspanne verstrich Donnerstagfrüh. "Die Zahl der Toten und Verletzten dürfte noch sehr stark steigen, weil viele Familien noch unter eingestürzten Gebäuden liegen", sagte der Chef der Rettungsdienste im Nordwesten Syriens, Raed Saleh, der Nachrichtenagentur Reuters. Die Rettung bleibt wegen des Mangels an Ausrüstung eine Herausforderung. "Es fehlt uns am Wesentlichen. Wir brauchen große Kräne, um große (Trümmer-)Brocken zu beseitigen. Wir brauchen schwere Ausrüstung, um mit dieser Tragödie umzugehen", sagte Munir Mustafa, stellvertretender Leiter der Rettungsorganisation Weißhelme. "Wir nutzen unsere Hände und Schaufeln, um die Trümmer zu beseitigen.
Geberkonferenz im März
Die EU will Anfang März eine Geberkonferenz für Syrien und die Türkei abhalten. In einem Schreiben an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sicherten die EU-Staats- und Regierungschefs Ankara zudem am Donnerstag zu, ihre Unterstützung weiter zu verstärken.
Aktivisten berichteten, dass nach dem Erdbeben keine Hilfsgüter, stattdessen aber Leichen von Syrern aus der Türkei über die Grenze transportiert würden. In der Türkei leben Millionen syrische Flüchtlinge. Die syrische Grenzbehörde veröffentlichte Fotos von Kleinbussen, aus denen Leichensäcke in Fahrzeuge umgeladen werden. Allein im Nordwesten Syriens wurden durch die Katastrophe schätzungsweise 11.000 Menschen obdachlos.
Noch immer werden zudem viele Menschen in beiden Ländern unter Trümmern vermisst. Allein in der Türkei sind mehr als 6.000 Gebäude eingestürzt. Trotzdem gibt es noch immer kleine Erfolgsmeldungen: Deutsche und britische Helfer befreiten etwa in der Nacht auf Donnerstag in der türkischen Stadt Kahramanmaras eine Mutter und ihre sechsjährige Tochter aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses. Mutter und Kind seien in den Trümmern des Hauses geortet worden. Fast 20 Stunden hätten sich die Helferinnen und Helfer von @fire und der britischen Organisation Saraid durch die Trümmer gearbeitet, berichtete Baum. Bei Minustemperaturen drohten Mutter und Kind zu erfrieren.
Auswirkungen auf Wahlen in der Türkei?
Auch zahlreiche Rettungskräfte aus Österreich sind in der Türkei im Einsatz. Drei Menschen hat das österreichische Hilfskontingent nach dem verheerenden bereits aus den Trümmern gerettet. Das sagte Sprecher Pierre Kugelweis, der mit der Spezialeinheit in der schwer betroffenen Provinz Hatay im Einsatz ist, am Donnerstag der APA. Doch den 85 Soldaten rinnt die Zeit davon. "Wir haben 100 Stunden, um so viele Personen wie möglich aus den Trümmern zu holen", sagte Kugelweis am Vormittag. Die Soldaten waren am Donnerstag bei zwei eingestürzten Häusern im Einsatz, dort hatten Hunde angeschlagen. Aus einem Keller waren auch Klopfgeräusche zu hören. Die Rettungskräfte versuchten, Überlebende zu lokalisieren.
In der Türkei wächst der Unmut über das Katastrophenmanagement, was auch Auswirkungen auf die für den 14. Mai geplanten Präsidenten- und Parlamentswahl haben könnte. Es wurden Zweifel laut, ob die Abstimmung überhaupt stattfinden kann. Präsident Erdogan ließ am Donnerstag vom Parlament in Ankara den erdbebenbedingten Ausnahmezustand für drei Monate bestätigen. Das Dekret wurde im Amtsblatt veröffentlicht - damit ist der Ausnahmezustand in Kraft. Die Maßnahme umfasst die zehn Provinzen, die auch vom Erdbeben getroffen wurden.
Erdogan hatte gesagt, der Ausnahmezustand werde auch helfen, gegen die vorzugehen, die "Unfrieden und Zwietracht stiften". Es habe zum Beispiel Plünderungen gegeben, die nun verhindert werden könnten. Erdogan hatte den Ausnahmezustand schon am Dienstag angekündigt. Mit dem Ausnahmezustand können laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu in den betreffenden Regionen etwa öffentliche Einrichtungen, Organisationen oder "juristische und natürliche Personen" in der Region dazu verpflichtet werden, beispielsweise Ausrüstung, Grundstücke, Gebäude, Fahrzeuge oder Medikamente abzugeben. (apa/dpa/reuters/afp)