"Wiener Zeitung": Der Meeresspiegel steigt weltweit. Wien sieht es global und in den betroffenen Regionen aus?
Alexander Nauels: Global ist seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts der mittlere Meeresspiegel um rund 20 Zentimeter gestiegen und es lässt sich in den letzten Jahrzehnten ein deutlich beschleunigter Anstieg messen. Für die Pazifischen Inseln ist dabei ein über dem globalen Durchschnitt steigender Meeresspiegel zu beobachten, teilweise mit lokalen Anstiegsraten, die den globalen Trend um ein Vielfaches übersteigen. So ist beispielsweise im westlichen Pazifik allein seit 1990 ein Meeresspiegelanstieg von bis zu 30 Zentimetern zu verzeichnen.
Wie hoch würde er je nach den verschiedenen Szenarien ausfallen?
Der Weltklimarat hat den zukünftigen Meeresspiegelanstieg für unterschiedliche Emissionsszenarien untersucht und dabei auch berücksichtigt, wie sich nach wie vor unzureichend verstandene Prozesse, wie ein rapides beschleunigtes Abschmelzen von Eismassen in der Westantarktis oder in Grönland, auf diese Projektionen auswirken. Sollte es die Weltgemeinschaft schaffen, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten und den globalen Temperaturanstieg langfristig auf 1,5 Grad zu begrenzen, dann könnte sich der globale Meeresspiegelanstieg im Jahr 2100 auf ungefähr 50 Zentimeter einpendeln.
Mit welchen Szenarien sind in den kommenden Jahrhunderten zu rechnen?
Da der Meeresspiegel nur sehr langsam auf Klimaveränderungen reagiert und Jahrhunderte benötigt, um ein neues Gleichgewicht zu erlangen, wäre unter diesem Szenario im Jahr 2300 dann global mit ungefähr einem Meter Anstieg zu rechnen. Unter den pessimistischsten Annahmen, also ungebremste Treibhausgasemissionen und besonders schnelle Schmelzprozesse der polaren Eisschilde, könnten wir bereits 2100 mit bis zu 1,6 Metern globalem Meeresspiegelanstieg konfrontiert werden. Im Jahr 2300 wäre anhand solcher Projektionen sogar ein Meeresspiegelanstieg von bis zu 16 Metern denkbar.
Können wir nun einen Anstieg verhindern, oder ist es bereits zu spät?
Ich möchte hier zwei zentrale Erkenntnisse festhalten. Erstens: Wir können einen beträchtlichen Anstieg des Meeresspiegels nicht mehr verhindern, betroffene Regionen müssen sich anpassen und dabei unterstützt werden. Dieser Beistand wird besonders wichtig, wenn es nicht mehr möglich ist, Anpassungsmaßnahmen vorzunehmen, weil die Überflutungen zu stark oder aber auch finanzielle und institutionelle Handlungsspielräume ausgereizt sind. Zweitens: Wir haben es über Emissionsreduktionsmaßnahmen in diesem Jahrzehnt noch in der Hand, die schlimmsten Anstiegsszenarien zu vermeiden. Der Weltklimarat geht davon aus, dass über einen sehr langen Zeitraum von 2000 Jahren allein der Unterschied zwischen 1,5 Grad und 2 Grad globaler Erwärmung bis zu drei Meter Meeresspiegelunterschied bedeuten könnte.
Kann der Ernstfall noch vermieden werden?
Die kurze Antwort lautet: Nein. Der Ernstfall ist bereits für viele pazifische Inselstaaten eingetreten, da häufigere Überflutungen und resultierende Küstenschäden das Bewohnen bestimmter tiefliegender Küstenabschnitte und Atolle unmöglich gemacht haben. Trotzdem: Es ist immer noch möglich, die schlimmsten Anstiegsszenarien zu vermeiden und den Meeresspiegelanstieg zu bremsen. Leider musste es bereits in einigen Pazifikregionen und auch in der Karibik zu Umsiedlungsmaßnahmen kommen.
Wie sieht es aus mit Eindämmungsmaßnahmen?
Die neuesten Zahlen des Weltklimarats zeigen sehr deutlich, dass noch extrem wichtige Schadensbegrenzung betrieben werden kann. Denn es geht vor allem auch darum, den Meeresspiegelanstieg zu verlangsamen und Zeit für notwendige Anpassungsmaßnahmen zu gewinnen. Nur ambitionierte internationale Klimaschutzanstrengungen, die sich am Pariser Abkommen ausrichten, können verhindern, dass es zu einer großflächigen Entvölkerung und dem Verlust des kulturellen Erbes von besonders bedrohten pazifischen Inselgruppen kommt.
Welche Inseln sind bereits versunken?
Bereits vor einigen Jahren wurden wissenschaftliche Erkenntnisse veröffentlicht, die den Untergang einzelner unbewohnter Riffinseln der Salomonen belegen. Besonders tiefliegende pazifische Inseln von Atollnationen wie Kiribati, Tuvalu, den Marshall Islands oder den Föderierten Staaten von Mikronesien sind am stärksten vom Meeresspiegelanstieg bedroht. Wir müssen davon ausgehen, dass im Laufe dieses Jahrhunderts noch zahlreiche, auch bewohnte, Inseln dauerhaft überflutet werden.
Neben der Bodenversalzung kommt eine Palette weiterer Auswirkungen hinzu. Welche sind das?
Es gibt wichtige Faktoren neben dem reinen Meeresspiegelanstieg, die zu einer Zunahme von Überflutungsereignissen bis hin zum völligen Untergang von Atollen und tiefliegenden Inseln führen. Änderungen in Extremwetterereignissen, beispielsweise eine Intensivierung tropischer Wirbelstürme, ein möglicher Wandel in natürlichen Klimaschwankungen, wie dem El Nino Phänomen, aber auch das Absinken von Küstenland aufgrund von starker Grundwasserentnahme, gehören zu Faktoren, die Überflutungsrisiken verstärken. Und es müssen eben auch die zusätzlichen negativen Folgen, die der steigende Meeresspiegel vor Ort verursacht, wie die Bodenversalzung, resultierende Ernte- und Vegetationsschäden, mangelnde Trinkwasserversorgung, oder auch das Risiko einer zunehmenden Ausbreitung von Krankheiten wie Malaria, berücksichtigt werden, wenn es um eine Gefährdungsbeurteilung dieser besonders verwundbaren Inselregionen geht.
Maßnahmen greifen zu langsam. Die Behäbigkeit politscher Durchsetzungskraft ist offensichtlich.
Es steht außer Frage, dass sowohl die nationale als auch internationale Politik wider besseres Wissen viel zu lange viel zu wenig unternommen hat. Und zu wenig unternimmt sie immer noch, auch wenn zunehmend positive Signale wie der European Green Deal zu begrüßen sind. Dabei ist die historische Verantwortung der Industrienationen für den zu beobachtenden Klimawandel unstrittig.
Was sagt das Pariser Abkommen?
Es ist mit Mechanismen ausgestattet, die es erforderlich machen, dass diese Nationen ihre Verantwortung nicht nur über besonders ambitionierte Emissionsreduktionen wahrnehmen, sondern auch Länder, die historisch wenig bis gar nicht zum Klimawandel beigetragen haben und meist bereits heute überdurchschnittlich unter den Veränderungen leiden, finanziell und anderweitig unterstützen. Mit der historischen Entscheidung im letzten Jahr, einen "Loss and Damage" Fonds einzurichten - ein Fonds, der greift, um Schäden aufzufangen, die auftreten, weil eine Anpassung an den Klimawandel nicht mehr möglich ist, wird es in Zukunft eine weitere Plattform für besonders vulnerable Nationen geben, um Unterstützung einzufordern.
Detto: Was meinen Sie zu den COP27-Klimaverhandlungen hinsichtlich des "Loss and Damage"-Fonds?
Vor über 30 Jahren forderte die Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS) erstmals einen Fonds, der durch den Klimawandel verursachte Verluste und Schäden auffangen soll. Seitdem kämpfte besonders diese Ländergruppe für die Etablierung eines solchen "Loss and Damage" Finanzinstruments. Insofern muss die entsprechende Entscheidung bei der 27. UN-Klimakonferenz im letzten November in Ägypten als ein historischer Erfolg für AOSIS Staaten und andere vulnerable Nationen angesehen werden.
Aber Gelder sind noch nicht geflossen. Wie geht es weiter?
Für dieses Jahr heißt es nun, diesen Fonds tatsächlich aufzusetzen, und dafür müssen noch zahlreiche Details geklärt werden. Aktuell stehen also tatsächlich noch keine zusätzlichen Finanzmittel zur Verfügung. Ein Übergangsausschuss wird Ende dieses Jahres während der 28. UN-Klimakonferenz in den Vereinigten Arabischen Emiraten Empfehlungen vorlegen, um den Fonds schnellstmöglich einsatzfähig zu machen. Die Einrichtung des Fonds sollte also generell als wichtiger Erfolg gewürdigt werden, es muss aber sichergestellt werden, dass dieser Fonds auch bald vollumfänglich operieren und von besonders vulnerablen Nationen wie den kleinen Inselstaaten abgerufen werden kann.
Der Westen ist ein "notorischer" Klimasünder. Die Reduzierung von Treibhausgasemission sollte ganz oben auf der Tagesliste stehen.
Das ist absolut richtig. Und die Klimakrise ist ein globales Problem, dem auch nur mit einer globalen Anstrengung entgegengetreten werden kann. Wenn wir es nicht schaffen sollten, schnellstmöglich globale Treibhausgasemissionen gemäß des Pariser Abkommens zu reduzieren, und zwar um ungefähr 50 Prozent im Jahr 2030 und um 100 Prozent in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, wird es auf der ganzen Welt zunehmend dramatischere Klimafolgen geben, die Millionen von Menschenleben gefährden, enorme volkswirtschaftliche Schäden anrichten und die internationale Gemeinschaft destabilisieren. Es ist also im Interesse aller Staaten und Gesellschaften jetzt entschieden das Pariser Abkommen umzusetzen. Die gute Nachricht ist, dass sowohl der Weltklimarat als auch die Weltenergieagentur zahlreiche, bereits zur Verfügung stehende, und vor allem rentable Maßnahmen aufzeigen, um einen raschen Wandel in eine fossilfreie Zukunft jetzt zu vollziehen.

Klimaforscher Alexander Nauels.
- © Franca Wohlt