Die Weltbevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen. Von drei Milliarden im Jahr 1960 bis zu acht Milliarden heute. Die Bevölkerung ist nicht überall gleich stark gewachsen, das heißt, das demografische Gewicht auf dem Globus hat sich in diesem Zeitraum verlagert. Während Deutschland seit 1960 zwischen 70 und 80 Millionen Einwohnern schwankt, also quasi stagniert, haben sich die USA auf 330 Millionen verdoppelt. Deutlich stärkere Zuwächse gab es in China (1960: 667 Millionen) und Indien (1960: 445 Millionen) auf aktuell jeweils etwa 1,4 Milliarden Menschen.

Ein genauerer Blick auf Indien verdeutlicht die aktuellen Größenunterschiede. In Uttar Pradesh, einem einzelnen Bundesstaat in Indien, leben 250 Millionen Menschen. Wäre Uttar Pradesh ein eigener Staat, läge dieser weltweit an fünfter Stelle, hinter Indien, China, den USA und Indonesien. Ein anderes Beispiel: Im Bundesstaat Bihar leben mehr als 100 Millionen Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, darunter überregionale Sprachen wie Hindi und Urdu, aber auch regionale Sprachen wie Bhojpuri. Die wenigsten Leser und Leserinnen dieser Zeilen werden jemals von Bhojpuri gehört haben. Dennoch ist es die Muttersprache von 35 Millionen Menschen und damit von mehr als zum Beispiel Niederländisch. Für Europäer und Europäerinnen sind diese Größenordnungen nur schwer einzuordnen. Wenn man, wie die Autorin und der Autor dieser Zeilen, im ländlichen Österreich aufgewachsen ist, mag dies noch schwerer fallen.

Sorge um eine zu stark wachsende Bevölkerung

Solch hohe Bevölkerungszahlen und damit verbundene Wachstumsraten bereiten vielen Sorgen. Begriffe wie "Bevölkerungsexplosion" suggerieren, es handle sich dabei um ein unkontrolliertes Ereignis mit einem möglicherweise gewaltsamen Ergebnis. Trifft eine stark wachsende Bevölkerung auf limitierte natürliche Ressourcen, so die Annahme, müsse dies zu gravierenden Problemen führen. Im schlimmsten Fall Hunger und Tod, mindestens aber ein gebremstes Wirtschaftswachstum. Das mag zwar auf den ersten Blick plausibel erscheinen, lässt aber einen entscheidenden Punkt völlig außer Acht: Armut und Hunger waren selten Resultat eines ungleichen Verhältnisses zwischen Menschen und natürlichen Ressourcen, sondern vor allem ein Verteilungsproblem.

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Die Sorge um eine zu stark wachsende Bevölkerung hat sich am stärksten in China niedergeschlagen. 1979 führte die politische Führung in Peking die Ein-Kind-Politik ein, die das Bevölkerungswachstum zügeln und somit zu mehr Wohlstand führen sollte. Paaren, die mehr als ein Kind bekamen, drohten Sanktionen, von Geldstrafen bis hin zu Zwangsabtreibung. Die Ein-Kind-Politik wurde über mehr als drei Jahrzehnte verfolgt und konnte somit eine starke Wirkung auf Chinas Bevölkerungsentwicklung entfalten. Sie ließ das Wachstum deutlich unter das sogenannte Replacement-Level sinken, also jene Geburtenrate, die die Bevölkerungszahl langfristig stabil hält.

In wenigen Jahren soll Chinas Bevölkerung eine Spitze erreichen und danach kontinuierlich schrumpfen. Auch wenn das Ziel eines sinkenden Bevölkerungswachstums erreicht wurde, fehlen in China heute junge Menschen. Die wirtschaftlich bedeutende Gruppe der 15- bis 64-jährigen schrumpft bereits seit einigen Jahren. Gleichzeitig wird die Gruppe der über 65-Jährigen bis zum Jahr 2040 von aktuell 185 Millionen auf 325 Millionen oder mehr anwachsen. Kein anderes Land altert schneller. Außerdem ist China zu männlich. Es gibt heute gut 30 Millionen mehr Männer als Frauen. Auch dies hängt mit der Ein-Kind-Politik zusammen. Bei nur einem Kind entschieden sich viele Paare für einen Sohn.

Auch in Indien gibt es mehr Männer als Frauen

Der indische Premierminister Narendra Modi von der Bharatiya Janata Party (BJP) äußerte sich in einer Rede 2019 besorgt über die "Bevölkerungsexplosion, die verschiedene Probleme für die kommenden Generationen mit sich bringt", und lobte diejenigen, die "die Politik der kleinen Familie" verfolgen, als Beitrag zur Entwicklung des Landes und als eine Form des Patriotismus. Unterschiedliche Initiativen sollen das Bevölkerungswachstum drosseln. Die "Mission Parivar Vikas" (Mission Familienentwicklung) des indischen Gesundheitsministeriums hat zum Ziel, die Fertilitätsrate bis 2025 auf 2,1 zu senken. Dies soll vor allem über Aufklärungskampagnen und einem erleichterten Zugang zu Verhütungsmitteln ermöglicht werden. Im nordöstlichen Bundesstaat Assam ist die Familienpolitik restriktiver. Paare mit mehr als zwei Kindern werden bestraft, indem ihnen der Zugang zu staatlichen Arbeitsplätzen verwehrt wird.

In den 1970er Jahren gab es in ganz Indien Versuche seitens der indischen Regierung, Frauen zur Sterilisation zu bewegen. Insgesamt hat Indien jedoch im Vergleich zu China deutlich weniger Druck die Reproduktion betreffend auf die Menschen ausgeübt. Die Kampagne "Beti Bachao, Beti Padhao" (Rette die Tochter, bilde die Tochter) zielt darauf ab, das Bewusstsein für die Bedeutung von Bildung für Mädchen zu fördern und Abtreibungen aufgrund des Geschlechts zu verhindern. Es wird finanzielle Unterstützung für Mädchen, die eine höhere Bildung anstreben, angeboten. Insgesamt geht es darum, das ungleiche Geschlechterverhältnis auszugleichen, denn auch in Indien gibt es mehr Männer als Frauen.

Indiens Bevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Jedoch nicht explosionsartig, sondern linear. Die Wachstumskurve flacht bereits ab, und Indiens Bevölkerung soll bereits in den 2060er Jahren einen Spitzenwert von 1,7 Milliarden Menschen erreichen, danach aber wieder zurückgehen. Diese Einschätzung der Population Division der UNO basiert auf Prognosen zu Geburten- und Sterberate. Beide können sich freilich unerwartet ändern, das hat etwa auch die Pandemie der vergangenen Jahre gezeigt. Dennoch scheint es einen klaren Trend zu geben: Je mehr Menschen von Wohlstand und Bildung profitieren, desto geringer die Geburtenrate. Der Zusammenhang erschließt sich etwa mit Blick auf ein funktionierendes Pensionssystem. Wer sich auf eine staatliche Pension verlassen kann, ist nicht auf eigene Kinder als Altersvorsorge angewiesen.

Bildung und Einkommen als Wachstumsfaktoren

Wie steht es um die Religion? Hat die Religionszugehörigkeit einen Einfluss auf die Geburtenrate und somit auf das Bevölkerungswachstum? Geht es nach der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP, lautet die Antwort auf diese Frage eindeutig: Ja. Muslime würden sich rasanter als Hindus reproduzieren und somit Letztere zwangsläufig verdrängen. Mohan Bhagwat etwa, Vorsitzender der radikalen Kaderorganisation RSS, deren politischer Flügel die regierende BJP ist, spricht von einem "wachsenden Ungleichgewicht der Bevölkerung im ganzen Land", die eine "ernste Bedrohung für die Einheit und die kulturelle Identität des Landes" darstelle. Eine ähnliche Rhetorik kennen wir auch in Europa. Sie wird vor allem von neuen rechten Gruppierungen unter dem Schlagwort "Der Große Austausch" verbreitet.

Die propagierte Verdrängung von Hindus durch Muslime in Indien lässt sich statistisch jedoch kaum nachweisen. In der Dekade von 2001 bis 2011 stieg der Anteil von Muslimen von 13,4 auf 14,2 Prozent, während der Anteil von Hindus von 80,5 auf 79,8 Prozent fiel. Da auch die aktuellen Fertilitätsraten bei den Religionsgruppen sehr ähnlich sind (Muslime: 2,6 Kinder, Hindus: 2,1 Kinder pro Frau), wird sich das Verhältnis zwischen den Religionsgruppen in Indien auch in Zukunft nicht sonderlich stark verändern. Was die hindunationalistische Propaganda außerdem gerne vergisst: Indien war nie das "Land der Hindus", sondern immer schon durch eine religiöse wie kulturelle Vielfalt gekennzeichnet.

Einen stärkeren Zusammenhang scheint es zwischen Bevölkerungswachstum und sozioökonomischen Faktoren wie Bildung und Einkommen zu geben. Dies sieht man besonders deutlich in einem Vergleich zwischen den unterschiedlichen Wachstumsraten innerhalb Indiens. Uttar Pradesh und Bihar, ohnehin die bereits bevölkerungsstärksten Bundesstaaten, sind in der Dekade 2001 bis 2011 um 20 beziehungsweise 25 Prozent gewachsen und liegen damit im Spitzenfeld Indiens. Umgekehrt verhält es sich mit der Wirtschaftsleistung dieser beiden Bundesstaaten. In dieser Rangliste belegen sie die beiden letzten Plätze. Ein ähnlich negatives Bild zeichnen Indikatoren wie Alphabetisierungsrate, Schuljahre oder Lebenserwartung. Das Beispiel Kerala, ein Bundesstaat im Süden Indiens, zeigt, dass sich ein hoher Standard im Gesundheits- und Bildungsbereich negativ auf die Wachstumsrate auswirken kann. Keralas Bevölkerung wächst kaum beziehungsweise stagniert. Die Fertilitätsrate liegt mit 1,6 deutlich unter dem nationalen Durchschnitt.

Die Rolle in der Weltwirtschaft und die Gefahren der Klimakrise

Indiens große Bevölkerung begreifen viele als wirtschaftlichen Vorteil, den der Subkontinent zu seinen Gunsten ausnutzen sollte. Vor allem das scheinbar endlose Reservoir an Arbeitskräften könnte Indien weiter Antrieb verschaffen. Hier gibt es wesentliche Unterschiede zwischen den beiden asiatischen Giganten: Während Chinas Anteil an der sogenannten arbeitsfähigen Bevölkerung bereits im Rückgang ist, wächst dieser in Indien weiter stark. 2014 rief Modis BJP-Regierung die "Make in India"-Kampagne ins Leben. Deren Ziel ist es, die Wirtschaft anzukurbeln, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und so das vorhandene Arbeitskräftereservoir auszunutzen. Über die Förderung von Branchen wie Pharma, Elektronik oder Luftfahrt soll Indiens Rolle in der Weltwirtschaft weiter gestärkt werden. Über den Abbau bürokratischer Hürden sollen zugleich mehr Investitionen aus dem Ausland angelockt werden.

Die hohe Bevölkerungszahl in Asien generell und in Südasien im Speziellen spielt auch in Bezug auf die Klimakrise eine zentrale Rolle. Zum einen, weil die Auswirkungen der Krise in der Region besonders stark zu spüren sind. Die Zahl der potenziellen Opfer ist ungleich höher als etwa in Europa oder Nordamerika. Alleine in der Bucht von Bengalen, dem Grenzgebiet zwischen Indien und Bangladesch, leben etwa 250 Millionen Menschen. Die Bevölkerung in der Region ist mit einer Reihe von Naturgefahren konfrontiert: Zyklonen, Überschwemmungen, Erosionen sowie einem steigenden Meeresspiegel. Die Frequenz und Intensität dieser Gefahren steigt durch die Klimakrise erheblich. Ein Blick auf vergangene Katastrophen lässt erahnen, welche Zerstörungskraft diese natürlichen Gefahren in einem derart dicht besiedelten Gebiet entfalten können: Im Jahr 1971 kamen bei einem Zyklon in der Bucht von Bengalen mindestens 300.000 Menschen ums Leben, etwa 20 Jahre später 140.000.

Die Auswirkungen der Klimakrise sind komplex und entfalten sich in multiplen Gefahren für die Menschen. Dürren, Überflutungen und Sandstürme sind mittlerweile zu jährlich wiederkehrenden Phänomenen geworden, also vielmehr Normal- als Ausnahmezustand. Darunter fällt auch die extreme Wasserknappheit, die zunehmend zum Problem wird. Am 19. Juni 2019 lief etwa kein Wasser mehr aus den Leitungen der Metropole Chennai an der Ostküste Indiens. Die vier großen Reservoirs zur Wasserversorgung der elf Millionen Einwohner waren leer. An diesem "Day Zero" und in den Wochen danach wurden viele Menschen dieser Stadt mit Wasser aus Tanks versorgt, das von den umliegenden Regionen per Lkw nach Chennai gebracht wurde.

In vielen Regionen Indiens hat der Grundwasserspiegel ein gefährlich niedriges Niveau erreicht. Mit dafür verantwortlich sind landwirtschaftliche Entwicklungsprogramme, die unter dem Label "Green Revolution" seit den 1960er Jahren gefördert werden. Hochleistungssaatgut, meist von US-Agrarwissenschaftern entwickelt und von Konzernen wie Monsanto vertrieben, soll die Ernährungssicherheit in Indien garantieren. Auch wenn die Erntemengen zumindest kurzfristig gesteigert werden konnten, waren die mittel- und langfristigen Auswirkungen keineswegs nur positiv. Hochleistungssaaten funktionieren nur als Teil eines sehr ressourcenintensiven Pakets: Dünger, Pestizide und viel Wasser. Das laugt die Böden aus und entleert die Grundwasserreservoirs. Bereits jetzt sehen sich viele gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Ein Trend, der in den kommenden Jahren nur stärker werden kann.

Das Versprechen der Moderne kann nicht eingehalten werden

Asien spielt aus einem anderen Grund eine zentrale Rolle in der Klimakrise. Ohne die Milliarden Menschen in Indien und China kann keine Lösung der Krise funktionieren. Auch hier gilt der simple, aber entscheidende Grundsatz: Numbers matter. Würden die Milliarden Menschen in Indien und China einen europäischen Lebensstil pflegen - Kühlschrank, Waschmaschine und Auto in jedem Haushalt -, so würde die Menschheit bald daran ersticken. Das heißt de facto, dass das Versprechen der Moderne nicht eingehalten werden kann. Lange wurde den Menschen in Asien versprochen, die Zukunft werde Nahrungsmittelsicherheit, Luxus und Bequemlichkeit bringen. Alles auf Basis eines hohen CO2-Ausstoßes. Dass dies aber, wenn überhaupt, nur für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung möglich ist, wird immer deutlicher.

Der Ruf nach einem Recht auf eine nachholende Entwicklung, die auf CO2-Emissionen beruht, ist nachvollziehbar. Der Westen hat vorgezeigt, dass wirtschaftliches Wachstum und Industrialisierung mit dem Verbrauch fossiler Brennstoffe einhergehen. Noch immer ist der Zusammenhang zwischen nationalem Wohlstand und CO2-Ausstoß eindeutig. Je mehr verbrannt wird, desto höher der Wohlstand. Die USA stoßen heute etwa doppelt so viel CO2 aus wie Indien - bei einem Bruchteil der Bevölkerung. Noch klarer wird dieses Ungleichgewicht aus einer historischen Perspektive. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, also kurz vor dem Beginn der ersten industriellen Revolution, haben die USA geschätzte 400 Milliarden Tonnen CO2 verursacht - Indien hingegen nur etwa ein Zehntel davon.