Das alte Seoul gibt es fast nur noch herausgeputzt für Touristen, sonst wird es, trotz Künstlerprotesten, abgerissen. Die Künstlerin Eunseon Park kämpft für den Erhalt der Vergangenheit - und damit gegen Windmühlen. - © F. Kretschmer
Das alte Seoul gibt es fast nur noch herausgeputzt für Touristen, sonst wird es, trotz Künstlerprotesten, abgerissen. Die Künstlerin Eunseon Park kämpft für den Erhalt der Vergangenheit - und damit gegen Windmühlen. - © F. Kretschmer

Seoul. Wenn Eunseon Park an ihre Kindheit zurückdenkt, dann redet sie wie eine Vertriebene, die ihrer frühesten Erinnerungen beraubt wurde. Die Nachbarschaft ihrer Jugend: längst einer Hochhaussiedlung gewichen. "Die Bewohner von Seoul haben für gewöhnlich keine Heimat mehr, sie wurde ihnen einfach genommen", sagt die 37-Jährige: "Dabei braucht doch jeder Mensch seine Heimat."

Mit ihrem Künstlerkollektiv "Listen to the city" steht sie dafür ein, die verbliebenen Spuren der Vergangenheit zu bewahren. In Seoul ist dies nicht weniger als ein Kampf gegen Windmühlen.

Rasantes Wachstum


Noch Mitte der 1950er Jahre lebten kaum anderthalb Millionen Menschen in der Stadt, mittlerweile stellt die Metropolregion mit über 25 Millionen Einwohnern den drittgrößten Ballungsraum der Welt dar. Die turbulente Vergangenheit ist dabei längst aus der architektonischen DNA gelöscht: von den japanischen Kolonialherren, später durch die Bomben des Koreakriegs, schließlich im Zuge des rasanten Wirtschaftswachstums unter den Militärdiktatoren. Viele Jahrzehnte kannte die Stadtplanung der Regierung nur ein Narrativ: höher, schneller, weiter. Wie eine nicht zu bändigende Naturgewalt fegte der urbane Wandel über das Land hinweg.

Wer die baulichen Folgen des "Wirtschaftswunders vom Han-Fluss" in all seinem Ausmaß erblicken möchte, erklimmt am besten einen der Berge im Seouler Stadtgebiet und lässt den Blick in die Ferne schweifen: Tausende Apartmentblocks reihen sich wie Dominosteine bis zum Horizont, in ihrer grauen Erscheinung und kubischen Form sind sie kaum auseinanderzuhalten. Einzelne Hochhaussiedlungen beherbergen auf nur wenigen Quadratkilometern mehr Bewohner als österreichische Kleinstädte.

Eine weitere Geisterstadt

Wer noch das alte, ärmliche Seoul erleben will, muss durch die verschlungenen Gassen gegenüber dem Militärgefängnis von Seodaemun waten, nur einen Steinwurf von den gläsernen Bürotürmen des Stadtzentrums entfernt. Rostige Wasserrohre ragen aus den Außenwänden der Hütten, die Dächer sind oft nur mit Steinen beschwert, Stromleitungen hängen auf Augenhöhe. Über den ästhetischen Wert des "Okbaraji"-Viertels lässt sich streiten, historisch jedoch erzählt die Nachbarschaft von einem der traurigsten Kapitel koreanischer Vergangenheit.

In den dutzenden Gasthäusern sammelten sich in den 20er und 30er Jahren die Mütter und Frauen der Inhaftierten - oftmals Widerstandskämpfer gegen die japanische Kolonialregierung -, um ihre Angehörige im Gefängnis mit Reis-Lieferungen vor dem Hungertod zu bewahren. Später in den 70er Jahren suchten die Studentenaktivisten der Demokratiebewegung Zuflucht in den anonymen Herbergen, heute leben dort meist Wanderarbeiter aus der Provinz.

Seit einigen Monaten jedoch ist das Viertel nur mehr eine weitere Geisterstadt, bereit für die anrollenden Bulldozer: Die Fenster sind eingeschlagen, Möbel liegen auf der Straße, neben verwahrlosten Rollern und Müllbergen. Der koreanische Mischkonzern "Lotte" hat die Genehmigung von der Stadtregierung erhalten, auf dem Gelände des Okbaraji-Viertels eine Hochhaussiedlung zu errichten. Eine knappe Mehrheit der Anwohner hat dem Entwicklungsprojekt gegen Kompensationszahlungen schließlich zugestimmt. Das Gros an Koreanern ist froh, in hochmodernen Hochhauswohnungen zu leben. Einige Anwohner weigern sich jedoch auszuziehen. Die einen fordern faire Kompensationszahlungen, die anderen wollen ihre Heimat nicht verschwinden sehen.

Sie haben sich an das Künstlerkollektiv von Eunseon Park gewandt, um ihren Protest an die Öffentlichkeit zu tragen, das daraufhin improvisierte Freilichtkonzerte in dem Viertel organisierte. Bei diesen patrouillieren immer wieder zwei junge Männer in Zivil durch die Gassen, um Schaulustige vom Fotografieren abzuhalten. Wer genauer nachfragt, dem stellen sie sich als "privater Sicherheitsdienst" vor, angeheuert von den Investoren.

Rechtsfreier Raum


Der südkoreanische Staat verfügt über eine lange Tradition, bei sozialen Unruhen Verbindungen mit der Unterwelt einzugehen: Während der Militärdiktaturen heuerte das Regime Schläger von örtlichen Gangsterbanden an, um so Studentenaufstände niederzuschlagen. Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1988 sorgten sie auch für die Zwangsräumungen von über 700.000, teils illegalen Mietern. Mit Erstarken der Staatsmacht übernahm dann zunehmend die Polizei solch unliebsame Aufgaben. Wissenschafter rätselten lange darüber, warum die südkoreanische Regierung nun, ausgerechnet im Zuge der Demokratisierung, bei Zwangsräumungen erneut dubiose Sicherheitsfirmen mit Verbindungen zum organisierten Verbrechen walten lässt. Meist wurde dies mit einer korrupten Politikelite begründet, die sich in den Fittichen einer neoliberalen Immobilienbranche befindet.

Der kanadische Soziologe Jonson Portieux kommt jedoch in einer Forschungsarbeit zu einem anderen Ergebnis: Im demokratischen Korea sei es zunehmend inopportun geworden, Zwangsräumungen anzuordnen, zumal die resultierenden Eskalationen potenzielle Wählerstimmen gefährden. Also schuf der Staat einen rechtsfreien Raum: Solange Baufirmen ein Stück Land gesetzlich erworben haben, dürfen diese ihre Rechte notfalls auch mit Gewalt durchsetzen. Dafür müssen zuvor mindestens 50 Prozent der Anwohner den Bauplänen zugestimmt haben. Oft jedoch helfen "private Sicherheitsfirmen" bei der Entscheidungshilfe nach.