- © Philipp Lichterbeck
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Rio de Janeiro. Misha Glenny, 58, ist englischer Autor, Journalist, Historiker. Er arbeitete als Korrespondent für die BBC und "The Guardian". Heute schreibt er über das organisierte Verbrechen. Zu seinen auf Deutsch publizierten Büchern zählt "CyberCrime: Kriminalität und Krieg im digitalen Zeitalter" (DVA, 2012). Zuletzt von ihm erschienen ist "Der König der Favelas: Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption" (Tropen, 2016). Darin schildert Glenny die Karriere eines der berühmtesten Drogenbosse Rio de Janeiros. Dieses Jahr war Glenny zu Gast auf dem internationalen Literaturfestival in Paraty (Flip), der wichtigsten Literaturveranstaltung Brasiliens. Dort fand das Gespräch statt.

"Wiener Zeitung": Herr Glenny, wie sehen Sie die Sicherheitslage in Rio de Janeiro kurz vor den Olympischen Spielen?

Misha Glenny: Zuerst die gute Nachricht: Die Zika-Gefahr wurde stark übertrieben. Im August gibt es in Rio fast keine Moskitos. Vor Zika muss sich niemand fürchten.

Und die schlechte Nachricht?

Brasilien erlebt eine monumentale politische und wirtschaftliche Krise, die auch den Bundesstaat Rio de Janeiro trifft. Rio ist pleite und hat den finanziellen Notstand verhängt. Sollte deswegen die Metrolinie in Richtung Olympiapark nicht fertig werden, wäre ein Verkehrsinfarkt die Folge. Zweitens hat man in Rio zwar Erfahrungen mit Großereignissen gesammelt, etwa der Fußball-WM. Aber die Olympischen Spiele sind anders: Sie sind über die Stadt verteilt, verlangen mehr Voraussicht. Die Brasilianer sind zwar Meister der Improvisation, aber wenn nur ein Dach in einer der schnell hochgezogenen Arenen einstürzt, wäre das eine Katastrophe.

Wie sieht es mit der Kriminalität aus? Sie hat dieses Jahr stark zugenommen. Die Zeitschrift "Veja" hat an einem ganz normalen Juli-Wochenende 27 Morde, 20 Verletzte, 19 Schießereien und sieben Massenüberfalle dokumentiert.

Es ist eine Folge der Wirtschaftskrise. Mit der Arbeitslosigkeit und den fehlenden Perspektiven kommt die Kriminalität zurück. Außerdem beobachte ich mit Schrecken, wie die UPP kollabieren. Die UPP sind die Befriedungseinheiten der Polizei, die ab 2008 in die Favelas geschickt wurden, um die Macht der Drogengangs zu brechen. Sie sind total unterfinanziert, viele Polizisten erhalten keine vollständigen Löhne mehr. Aber schlimmer noch: Den UPP ist nie etwas gefolgt, was den Menschen eine Perspektive hätte geben können: Kindergärten, Schulen, Jobs, Gesundheitsversorgung, bessere hygienische Zustände. Ich habe mit José Beltrame gesprochen . . .

. . . dem Sicherheitschef Rios . . .

Ja, er ist sehr wütend. Er weiß, dass die Favelas ein soziales Problem sind, kein Sicherheitsproblem. Aber man hat die Polizei alleine gelassen. Jetzt testen die Drogengangs die Grenzen aus. Sie hatten sich nur taktisch zurückgezogen. Es gibt Schusswechsel mit der Polizei, fast jeden Tag sterben Unschuldige durch die Kugeln beider Seiten. Einige UPP-Einheiten haben sich auch als korrupt erwiesen, haben Favelabewohner erpresst, misshandelt und ermordet. So hat man den Menschen das letzte Vertrauen geraubt. Dieses Vakuum füllen die Gangs.

Was heißt all das praktisch für die Olympischen Spiele?

Unberechenbarkeit. Vor wenigen Wochen haben Drogengangster einen ihrer Bosse aus einem Krankenhaus im Zentrum Rios befreit. Am helllichten Tag. Alles scheint derzeit möglich. Allerdings wird der Staat so viele Polizisten und Soldaten auf die Straßen schicken, dass es rund um die Spiele ruhig bleiben wird. Die Drogengangs wiederum betrachten die Spiele als Geschäftsmöglichkeit. Sie wollen Drogen verkaufen. Es geht ihnen ums Business. Sie wissen, dass viele Touristen nach Rio kommen, um Party zu machen. Ihre besten Kunden kommen ja aus der Mittel- und Oberschicht.

Wenn es nur ums Geschäft geht, warum machen die Gangs dann überhaupt Ärger, provozieren Schießereien, zünden Busse an?

Es gibt immer einen rationalen Grund dahinter. Sie wollen von einer Drogenlieferung ablenken oder die Verlegung eines inhaftierten Chefs verhindern, Territorien markieren. Was von außen wie Chaos wirkt, ist Strategie.

Manchmal scheint es, als ob es in Rio eine Kultur der Gewalt gäbe?

Ich glaube sehr stark, dass die sozio-ökonomischen Umstände entscheidend sind. Vor allem die soziale Ungleichheit. Und natürlich der sinnlose Krieg gegen die Drogen. Ein Beispiel: 1982 war die Mordrate von New York genau so hoch wie die von Rio. Sieben Jahre später war Rios Mordrate um das Dreifache angestiegen. Das Kokain hatte die Favelas überschwemmt, weil Brasilien zum Transitland auf dem Weg nach Europa geworden war. Mit dem Geld kauften die Drogengangs Waffen, um sich gegen die korrupte Polizei zu wehren.

Wie viele Drogenkommandos gibt es in Rio?

Es sind vor allem drei große, die miteinander konkurrieren. Jede Gang beherrscht unterschiedliche Favelas, die meist auf Hügeln liegen. Um diese Hügel führen sie Krieg. In São Paulo ist das ganz anders. Dort hat sich eine mächtige Mafiagruppe durchgesetzt, die heute in ganz Brasilien agiert und den Kokainhandel nach Europa beherrscht. Aber in Rio wird sehr kleinteilig um Territorien gekämpft. In ihren Territorien ersetzen die Gangs praktisch den Staat, das macht sie so stark. Als weitere Fraktion gibt es die Milizen aus ehemaligen Polizisten, Soldaten und Feuerwehrleuten, die sich auf Schutzgelderpressung spezialisiert haben. Sie beherrschen die Peripherie.