Manaus/Brasília. Das Wasserflugzeug Cessna 208 Caravan fliegt mit sonorem Brummen in 2800 Metern Höhe über dem brasilianischen Urwald. Endloses Grün und im gleißenden Sonnenlicht glitzernde Flussadern des Amazonas-Zubringers Tapajós, am Horizont Cumulus-Wolken wie aus feinster Watte.
Doch nach einiger Zeit wird das Grün des Waldes von Goldminen vernarbt, die hässliche Wunden in den Regenwald geschlagen haben. Eine Landebahn für Kleinflugzeuge ist auszumachen und die Hütten, in denen die Garimpeiros leben, die Glücksritter, die hier, tief im Amazonas, legal oder illegal nach Gold suchen. Gerodete Flächen und nackte Erde, aus der mit Wasser die winzigen Goldkrümelchen gespült wurden und Lacken, in denen sich dieses schmutzig-braune Wasser nun staut.

Mit 250 km/h fliegt die Turboprop-Maschine weiter, aus dem Dunkelgrün stechen helle, rechteckige Flächen hervor. Der Regenwald ist hier bereits den Weiden der Rinderzüchter und abgeholzten den Brachflächen, welche die Holzfäller hinterlassen haben gewichen. Sojafelder, fressen sich vom Rand des Regenwaldes Stück für Stück in sein Inneres. Jedes Jahr verschwindet so ungefähr ein Waldstück von der Größe Belgiens aus der grünen Lunge des Globus. Rund 75 Prozent der Treibhausgasemissionen Brasiliens - der viertgrößte Klimaverschmutzer weltweit - kommen von der Zerstörung der Wälder, 750.000 Quadratkilometer Amazonas-Urwald ist bereits abgeholzt, eine Fläche fast so groß wie die Türkei.

Nach einer weiteren halben Stunde Flug ist am Boden eine riesige Baustelle auszumachen, eine Staumauer, etwa zu einem Viertel fertiggestellt, ein paar Kilometer von der Baustelle entfernt ist eine richtige Kleinstadt entstanden. Dann ein riesiger Stausee. Dieses Wasserkraftwerk ist bereits fertiggestellt, Schleusensystem und Generatorenhalle sind deutlich erkennbar.

Das Mega-Staudamm-Projekt von São Luiz do Tapajós
Der Tapajós-Fluss windet sich derzeit fast unberührt durch den Regenwald, von seinen 2291 Kilometern Länge sind nur 280 Kilometer schiffbar. Geht es nach der Regierung in Brasília und den Planern, dann sollen am Tapajós insgesamt 43 Talsperren gebaut werden. Doch daraus wird nichts, zumindest eines, das Kraftwerk São Luiz ist nun von der brasilianischen Umweltbehörde gestoppt worden. 7,6 Kilometer breit und 50 Meter hoch wäre die Staumauer geworden. Das Wasserkraftwerk hätte eine Leistung von 8000 Megawatt erbracht und wäre damit eine der sechs größten Talsperren der Welt gewesen, das drittgrößte in Brasilien nach Itaipú, an der Grenze zu Paraguay, und dem umstrittenen Kraftwerk Belo Monte am Xingu-Fluss, rund 650 Straßenkilometer vom nun gestoppten Kraftwerk São Luiz entfernt.

São Luiz war im Fadenkreuz des Chefs der Greenpeace-Regenwald-Kampagne Paulo Adario. Seit Mitte der 90er Jahre kämpft der 66-jährige Adario, ein Mann mit ergrautem Wuschelkopf, buschigen Augenbrauen und schlohweißem Bart für den Schutz des Regenwaldes. Er legte sich mit den Holzfällern der "Mahagoni-Mafia" an, wie er sie nennt, mit Sojafarmern und Viehzüchtern, die den Amazonas-Regenwald bedrohen. Adario kennt die Region wie seine Westentasche und er hat Erfahrung mit der Dramaturgie der Waldzerstörung. Zuerst kommen die Goldsucher und Glücksritter, die Holzfäller, Straßen, Weiden, Sojafarmen.

Für Adario sind die geplanten Wasserkraftwerke nichts anderes als ein riesiges Einfallstor für die Amazonas-Zerstörer. Denn die Kraftwerkskette am Tapajós soll neben der Stromerzeugung eine schiffbare Wasserstraße bilden. Nach der Fertigstellung soll dann Soja vom dünn besiedelten Bundesstaat im Landesinneren Brasiliens, Mato Grosso, zum Binnenhafen in Santarém und dann weiter zum Atlantikhafen Santana nahe Macapá oder nach Belém gebracht werden. "Greenpeace ist nicht gegen Wasserkraftwerke. Diese sind eine klimaschonende, erneuerbare Energiequelle - aber nicht mitten im Amazonas. Die Straßen werden abertausende Siedler ins Gebiet locken, die Zerstörung des Regenwaldes wird sich entlang der Kraftwerkskette beschleunigen", sagt Adario.

Der Anthropologe Jeremy M. Campbell, Professor an der Roger Williams University in Rhode Island, USA, ist derzeit in einem kleinen Boot auf dem Tapajós-Fluss auf Forschungsexpedition. Er hat die Beziehungen zwischen den am Fluss lebenden Riberenos mit den weißen Siedlern, die seit dem Kautschuk-Boom im 19. Jahrhundert in den Amazonas eingedrungen sind, studiert und sieht die Kraftwerkspläne im Territorium der Mundurukú kritisch: "Der Strom aus den Kraftwerken wird - so ist zu befürchten - hauptsächlich den Farmen und Minengesellschaften, die hierher kommen wollen, nützen und nicht den Menschen, die hier leben. Für die Dörfer würden ein paar Solarpanele völlig ausreichen."

Sonne als Lösung für die Dörfer der Mundurukú
Greenpeace-Regenwald-Kampagnen-Direktor Adario hat dafür gesorgt, dass Aktivisten der Umweltorganisation Solarpaneele in die Dörfer Sawré Muybu und Dace Watpu bringen und so demonstrieren, dass Solarenergie und nicht Wasserkraft die Dörfer am Tapajós mit Elektrizität versorgen kann.
Der Kazike Arnaldo Kabá, Häuptling der Mundurukú, hat seine Leute auf einen Kampf gegen den Damm eingeschworen. "Er wird unseren Wald zerstören und unser Wasser. Und da geht es nicht nur um Trinkwasser. Was ist mit den Fischen, die uns als Nahrung dienen?", sagt er im "Wiener Zeitung"-Interview. Den Regenwald würden die Mundurukú nicht nur schützen, "weil er so schön ist". So gelten den Mundurukú Beeren von der Açaí-Palme als Köstlichkeit, der Wald und der Fluss gebe den Menschen alles, was sie zum Leben brauchen. Der Tapajós-Fluss sei ihre Lebensader.
Die Mundurukú sind nicht wie die Cariocas, die Bewohner von Rio de Janeiro, oder die Menschen von São Salvador da Bahia, die für ihre herzliche Offenheit, Lebensfreude und ihre Arte de Viver, die Kunst, zu leben, bekannt sind und dafür beneidet werden. Die Mundurukú sind eher wortkarg und begegnen einem nicht sofort mit einem breiten Lächeln. Sie jagen Queixada-Wildschweine, gehen fischen im Fluss und bauen Mandioca, Maniok, an. Am Abend, wenn die Sonne nicht mehr ganz so unbarmherzig vom Himmel brennt, spielen die jungen Mundurukú Fussball, zuerst die Frauen, danach die Männer, leidenschaftlich und mit Ballgeschick; schließlich ist hier Brasilien.
Rund 13.000 Mundurukú leben entlang des Tapajós, die meisten davon in einem Reservat am Oberlauf des Flusses, viele Dörfer sind aber nicht weit entfernt von der Stelle, wo der Staumdamm geplant ist. Sawré Muybu wäre nach der Fertigstellung des Flusskraftwerks nur mehr eine Insel im Stausee gewesen, Dace Watpu, das Nachbardorf, in den Fluten versunken. Nun geht das Leben wieder seinen gemächlichen Gang im Dorf, die Hühner picken in der Erde nach Essbarem, Hunde und Wildschweine sind friedlich vereint und niemand ist verwundert, wenn ein junges Mädchen mit einem Brüllaffen auf dem Kopf vorbeigeht. Es gibt eine kleine Schule in Sawré Muybu, alle Kinder sprechen neben ihrer Muttersprache Mundurukú auch Portugiesisch.
Die Mundurukú hatten gemeinsam mit Greenpeace eine Strategie im Kampf gegen das Kraftwerk ausgearbeitet: Sie demarkierten das Gebiet, das von den Indigenen beansprucht wird. Der österreichische Greenpeace-Aktivist Lukas Meus ist bei den Demarkations-Arbeiten dabei, ein italienischer und ein Schweizer Umweltschützer helfen einem Mundurukú, eine Tafel fünf Meter hoch auf einem Baum am Fluss anzubringen.
Schutzzone" steht auf den Demarkationsschildern
"Terra Sawré Muybu. Terra Protegida" - Sawré Muybu, Schutzzone", steht auf dem Schild, das den offiziellen Demarkationsschildern der brasilianischen Indio-Behörde Funai (Fundação Nacional do Índio), täuschend ähnlich sieht. Nur das Amtswappen fehlt, schließlich wolle man sich nicht der Fälschung schuldig machen, sondern nur einen symbolhaften Akt setzen.
Die Gruppe geht akribisch vor, die Position wird mit einem GPS-Gerät genau ermittelt, damit auch nur die 178.000 Hektar Land demarkiert werden, auf die die Mundurukú Anspruch erheben. Der österreichische Leiter der Regenwaldkampagne Meus: "Die Mundurukú fordern eine offizielle Anerkennung, dass dieses Land ihr Land ist. Dabei unterstützen wir sie. Wenn die Regierung anerkennt, dass dieses Land Mundurukú-Land ist, dann dürfen die Bewohner nicht ohne ihre Einwilligung umgesiedelt werden."
Die Rechtslage ist in diesem Punkt tatsächlich sehr eindeutig: Wenn die Mundurukú die offiziellen Landrechte auf ihr Territorium bekommen, dann können sie nur nach einem Kongress-Beschluss und nur im Falle "einer Katastrophe oder Epidemie die die Bevölkerung und die Souveränität des Landes gefährdet" umgesiedelt werden. Und selbst dann gilt: Sobald die Gefahr gebannt ist, müssen sie auf ihr Land zurückkehren dürfen. So steht es zumindest in der recht progressiven brasilianischen Verfassung, die 1988 in einem Anflug von demokratischem Enthusiasmus nach zwei Jahrzehnten Militärdiktatur verabschiedet wurde.
Die Mundurukú haben bei einer Protestaktion in der brasilianischen Hauptstadt Brasiliá Maria Augusta Assirati, im Jahr 2014 die damalige Präsidentin der brasilianischen Indio-Behörde Funai, getroffen, die ihnen damals sagte: "Ihr habt recht. Es ist essentiell, dass euer Land, das von Holzfällern und Goldgräbern bedroht wird, geschützt wird. Aber ich kann leider nicht über die Prioritäten dieser Regierung bestimmen". Neun Tage danach war sie nicht mehr im Amt.
Die Mundurukú leiten aber nicht zuletzt aus diesem Statement ihr moralisches Recht ab, dieses Land zu demarkieren. Die Mundurukú berufen sich zudem auf ein Dokument der Indio-Behörde, die genau das Gebiet, das nun demarkiert wird, als Mundurukú-Land ausweist.
Nun hat sich offenbar der erste Erfolg der Kampagne der Mundurukú und von Greenpeace eingestellt: Das größte Infrastrukturprojekt Brasiliens, São Luiz do Tapajós, ein geplantes gigantisches Wasserkraftwerk im Amazonasgebiet, darf nicht verwirklicht werden. Die brasilianische Umweltbehörde Ibama verweigert die für den Bau am Tapajós-Fluss im Teilstaat Pará notwendige Umweltlizenz, wie am Donnerstagabend bekannt wurde. Greenpeace begrüßt in einer Aussendung das Aus für den umstrittenen Megastaudamm Sao Luiz do Tapajós."Das ist ein großer Erfolg für alle, die sich für den Erhalt des kostbaren Regenwaldes einsetzen", so Lukas Meus, Amazonas-Sprecher bei Greenpeace in Österreich, laut der Aussendung. "Besonders ist es ein Erfolg für die indigene Gemeinschaft der Munduruku, die schon lange für ihr Land und gegen die Errichtung des Staudamms kämpft. Greenpeace hat sie in diesem Kampf unterstützt, gemeinsam mit 1,2 Millionen Menschen weltweit, die unsere Petition zum Schutz des Amazonas unterzeichnet haben."
Der Konflikt im Kleinen und das große Ganze
Was auf den ersten Blick nach einem regionalen Konflikt zwischen einer kleinen Gruppe von Indios und einem Kraftwerks-Baukonsortium aussieht, ist Teil jenes Ringens, das nicht nur Auswirkungen auf die Menschen am Tapajós-Fluss, in Amazonien oder Brasilien haben könnte, sondern das Schicksal der Menschheit mitbeeinflussen könnte. Welchen Entwicklungsweg will Brasilien einschlagen? Die Regierungen in Brasiliá von Luiz Inácio Lula da Silva (er war von 2003 bis 2001 Präsident) und seiner vor Kurzem abgesetzten Nachfolgerin Dilma Rousseff haben beträchtliche Fortschritte dabei gemacht, die Ärmsten der Armen Brasiliens aus bitterster Not zu holen und Millionen von Menschen den Weg zum Aufstieg in die Mittelschicht geebnet. Ob der derzeitige Präsident Michel Temer diesen Weg fortsetzen wird, ist nicht absehbar. Und ebenso wenig ist abschätzbar, welchen Stellenwert die neue Regierung dem Umweltschutz einräumen wird. Progressive Wissenschaftler und Experten drängen, Brasilien zum Umweltmusterland zu machen und verweisen darauf, dass das Amazonastiefland mit seiner beispiellosen Artenvielfalt Brasiliens größter Schatz sei.
Die Experten betonen, dass das derzeitige Entwicklungsmodell für das Land nicht nachhaltig sei und verweisen etwa auf die Dürre, die den Bundesstaat São Paulo in den vergangenen Jahren heimgesucht hat, weil der große saisonal erwartete Regen aufgrund der Entwaldung und des Klimawandels ausgeblieben ist. Und selbst Skeptiker räumen ein, dass der Amazonas im Weltklimasystem eine außerordentlich wichtige Rolle spielt.
Der englische Botaniker und Naturforscher Richard Spruce, der im 19. Jahrhundert nicht zuletzt durch seine 15-jährige Südamerika-Expedition bekannt wurde, schrieb 1851: "Der größte Fluss der Welt läuft durch den größten Urwald der Welt. ... Ein Urwald, der praktisch grenzenlos ist." 156 Jahre später gilt: Der Amazonas von heute ist längst nicht mehr grenzenlos, sondern schrumpft stetig. Eines der letzten Naturrefugien des Planeten ist in größter Gefahr.