Tallinn. Es ist der 27. April 2007. Anto Veldre hatte gehofft, dass in seinem kleinen Land Estland der Tag der Eskalation nicht kommen möge, doch an diesem Morgen sind die Vorzeichen nicht zu übersehen. Die Proteste der russischstämmigen Esten werden immer lauter: Die Nachrichten berichten, dass die Polizei in der Hauptstadt Tallinn begonnen hat, den Platz rund um den Bronzenen Soldaten abzusperren. Das Denkmal, 1947 errichtet, das ursprünglich an die Befreiung Estlands durch die Sowjetunion 1944 erinnerte, steht für die meisten Esten für die schmerzhafte sowjetische Okkupation. Die russischstämmige Bevölkerung, die immerhin knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmacht, sieht das anders.
Veldre weiß, dass der Beschluss der Regierung, die symbolisch aufgeladene Skulptur vom Zentrum in die Peripherie zu verlegen, von dieser Gruppe als Affront verstanden wird. Der IT-Spezialist packt Kamera und Stativ in die Tasche. Er will festhalten, was passieren wird.
Am Abend werden sich Russischstämmige mit der Polizei blutige Straßenschlachten liefern, ja. Das sind die Ausschreitungen, die Veldre angesichts der auch von Moskau aufgeheizten Stimmung zwischen ihnen und den autochthonen Esten erwartet hatte. Was er am Morgen noch nicht weiß: Der eigentliche Angreifer kommt erst später. Eine Kamera wird ihn nicht dokumentieren können. Der Gegner, der in der folgenden Nacht und in den Tagen darauf seine Attacken starten wird, hat weder Gesicht noch Schatten. Er greift aus der virtuellen Welt an.
Am 27. April 2007 beginnt in Estland der Cyberwar.
Tagelang attackieren Hacker Regierungsstellen, darunter das estnische Verteidigungs- und Außenministerium. Den Premierminister verunstalten sie mit einem Hitlerbart auf seiner Webseite. Sie greifen das Bankensystem an, das mehr als 90 Prozent seiner Dienstleistungen online abwickelt, die Telekommunikation, Schulen und die führende Tageszeitung. Sie zielen auf staatliche und kommerzielle Netzwerke ab. Der Gegner weiß, wo er das Land treffen kann.
Estland ist ein Cyber-Pionier
Das kleine Estland hoch oben im Norden mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern versteht sich als digitaler Pionier. Was möglich ist, wird am Bildschirm erledigt. Seit 1999 arbeiten die Behörden papierlos, die Esten können im Internet wählen und sich dort an den Universitäten immatrikulieren, die Steuerabrechnung wird ebenso online abgetippt, Überweisungen werden so getätigt. Ein Chip im Personalausweis dient als elektronische Signatur. Kurz: Die Esten haben ihre gesamte Verwaltung ins Netz verlegt.
Was an gewöhnlichen Tagen für bürokratische Effizienz sorgt, wird an diesem Aprilmorgen zum wunden Punkt. DDoS (Distributed Denial of Service-Attacken) haben begonnen, konzertiert die estnischen Server zu beschießen, also Programme, die durch zahllose Anfragen das Datennetz überlasten. Bis dato hatten vor allem kriminelle Gruppen mit DDoS-Angriffen Firmen erpresst. Doch jetzt fluten gekaperte Computer, sogenannte Botnets, von Amerika bis Vietnam die elektronische Infrastruktur eines Staates. Irgendwann spucken selbst die estnischen Bankomaten kein Geld mehr aus. Auch die Notrufnummer ist kurzfristig blockiert. Estland, dessen Verfassung jedem Bürger den Zugang zum Internet garantiert, ist schwer eingeschränkt. Es ist, als laufe das Land mit Notstromaggregat. Russland attackiere Estland, sagt der damalige Außenminister.
Erst nach drei Wochen hörten die digitalen Bombardements auf. Moskau hat eine Beteiligung stets zurückgewiesen. Allerdings hat sich die Jugendorganisation des Kremls ein paar Jahre nach den Sabotageakten zu dem Angriff bekannt. "Ich würde es nicht Cyber-Attacke nennen, es war eine Cyber-Verteidigung", erklärte ein "Kommissar" der Naschi-Organisation, Konstantin Goloskokow, im Jahr 2009 der britischen Zeitung "Financial Times".
Fest steht: In diesen Tagen vor zehn Jahren wurde in Tallinn eine neue Form der Kriegstaktik erprobt. Eine, die die Territorialgrenzen physisch nicht verletzt aber selbst die EU-Mitglieder weiter westlich aufschreckt. Hatten diese die estnisch-russischen Spannungen bisher als baltisches Spezifikum abgetan - aus der gemeinsamen sowjetischen Geschichte entstanden -, wird nun auch den Militärs in der alten EU bewusst, dass sich ein neuer Kriegsschauplatz auftut. "Es war ein Wendepunkt", sagt Veldre, der als IT-Sicherheitsspezialist für die estnische Regierung arbeitet. "Damals hat die Welt verstanden, dass Staaten Krieg digital führen können." Und, dass jahrhundertealte geografische Pufferzonen nichts mehr helfen, wenn der Krieg durch das Glasfaserkabel geführt wird.
Abgrenzung von der Sowjet-Zeit
Wie aber reagierte die estnische Regierung auf die neue Bedrohung? Ruderte sie zurück und holte die Verwaltung wieder in die analoge Welt?
Ganz im Gegenteil. Weil der konsequente digitale Ausbau zum kollektiven Selbstverständnis der jungen Republik gehörte, die in der Technologie noch immer mehr sieht als nur den Glauben an den Fortschritt, nämlich auch die Abgrenzung zur Sowjetunion, kam der Rückzug nicht in Frage. 1991 hatte man sich doch kompromisslos von der Sowjetunion, von Planwirtschaft und Schwerindustrie losgesagt. Der freie Markt und innovatives Unternehmertum gelten seither als Grundsteine der kleinen Republik.