Die Stimmen der Kinder überschlagen sich. Sie warnen Kasperl vor dem bösen Zauberer. Denn dieser scheint mit offenen Augen ins Unglück zu rennen. Die Tribüne tobt. Die Kinder stampfen, schreien, sind sichtlich bewegt. Mit jeder Faser ihres Körpers fiebern sie mit. 60 Minuten lang durchleben sie eine Achterbahn der Gefühle. Sie entfliehen dem Alltag, leben in der sogenannten Märchenstadt. Gemeinsam mit Kasperl, Pezi, Großmutti, Dagobert und dem übrigen Figurenreigen des Puppentheaters in der Wiener Urania.
Am Freitag startet die neue Saison des Puppentheaters. Am Programm steht "Das Einhorn". Kasperl und Pezi sind alte Hasen. Seit 70 Jahren stehen sie auf der Bühne. Sie kennen das Geschäft. Sie sind die Stars im Haus am Donaukanal. Sogar im Fernsehen traten sie hunderte Male auf. Generationen von Kindern saßen gebannt vor dem Bildschirm, wenn es "Krawuzikapuzi!" hieß. Doch beinahe wäre im April Schluss gewesen. Beinahe wären Kasperl und Pezi in die Arbeitslosigkeit geschlittert.
Denn der Ruhestand des damaligen Direktors Manfred Müller nahte, Nachfolger war keiner in Sicht. Niemand wollte das Unternehmen kaufen.
Bis dahin hielt Müller den Betrieb nahezu alleine aufrecht. Er machte die Administration, stand an der Kassa, schrieb 51 Stücke, schnitzte die Puppen, komponierte die Musik. Im Sommer baute er die Kulissen für die jeweils nächste Saison. Und die Hauptrollen übernahm selbstverständlich auch der Chef.
Erst als das drohende Ende von Kasperl und Pezi medial die Runde machte, hallte ein Aufschrei durch die Nation. Die Kinder der Zukunft sollen ohne Kasperl und seine Abenteuer aufwachsen? Die Medien waren voll vom drohenden Ende der Institution. Die Story betrübte ganz Österreich. Doch dann kam Hilfe.
Heller springt ein
Zahlreiche Interessenten meldeten sich. Schließlich kam André Heller zum Zug. Der Künstler und Sohn einer Wiener Zuckerl-Dynastie kaufte das Puppentheater. Fans atmeten auf. Müller erlebt den Start der neuen Saison leider nicht mehr. Der langjährige Direktor verstarb im April kurz vor dem Ende seiner offiziellen Ära. Die Abschlussvorstellungen wurden abgesagt. Der Vorhang schloss sich für ein halbes Jahr.
Nun kommt der Neustart. Außer dem Veranstalter ändert sich auf der Puppenbühne selbst allerdings kaum etwas. "Es gibt Neuerungen, aber nur sanfte", sagt Richard Hartenberger. Er ist für die Organisation des Theaters verantwortlich. Heller selbst agiert eher im Hintergrund.
So wurde die Technik auf den neuesten Stand gebracht. Lichtprojektionen im Theatersaal sollen die Kinder noch tiefer in die Märchenwelt eintauchen lassen.
Auch die Puppen wurden schrittweise modernisiert, die Mechanik der Hände und Köpfe erneuert. Kasperl, Pezi und Co. wurden außerdem neu ausgestattet. Sie bekamen nagelneue Kostüme, Frisuren und Accessoires. Die Stimmen der beiden Hauptfiguren werden in der neuen Saison anders klingen. Denn sie wurden bis zuletzt von Müller selbst gespielt. Nun übernimmt ein neuer Puppenspieler.
Doch zu viel Neuerung soll es auch nicht sein. "Kasperl und Pezi bleiben dieselben", sagt Hartenberger. Auch die Bühne verändert sich nicht. Bei den Stücken vertraut man auf bewährtes. Die neuen Macher schöpfen aus dem bestehenden Repertoire. Nach "Das Einhorn" steht "Dagobert und Zwiebelduft" auf dem Programm. Im Dezember gibt es das traditionelle "Nikolo-Spezial". "Die Stücke wurden sanft überarbeitet, ohne krampfhaft modern zu werden", sagt Hartenberger. Das "Schauen und Staunen" soll forciert werden. In der nächsten Saison wird es dann auch Uraufführungen geben.
Kasperl und Pezi stehen also wieder auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Ob sie nach 70 Jahren noch Lampenfieber haben? Die Vorstellungen am Freitag sind beinahe ausverkauft. Die Kinder wollen Kasperl und Pezi sehen. Damals wie heute warnen sie ihre Helden vor dem bösen Zauberer.(wint)