Hätte es ihn nicht über Jahrhunderte gegeben, wäre wohl einst der ganze Staat nicht zu führen gewesen. Verirrte Hilfesuchende in der Bürokratie finden hier Orientierungshilfen durch die verschlungenen Pfade der Verwaltung.

Die Rede ist vom guten, alten österreichischen Amtskalender. Dieses unentbehrliche Utensil der heimischen Verwaltungskultur ist ein mehrere hundert Seiten dicker und einige Kilo schwerer Wälzer. Er bietet bis heute einen unbestechlichen Überblick über hoheitliche Aufgaben und Zuständigkeiten der Republik Österreich. Vor nicht allzu langer Zeit jagte man mit dem dicken Ding sogar Spione. Wie, das beweist die folgende Geschichte. Sie ist aktenmäßig vollständig belegt, Kopien dieser Beweise befinden sich im Besitz des Autors.
Es geschah in Wien, das im Kalten Krieg als beliebter Tummelplatz aller möglichen Agenten in James-Bond-Manier galt. 1988 lief ein Spion aus dem Osten zum Nachrichtendienst der BRD über und plauderte als Mitbringsel all sein Wissen über seine Kollegenschaft samt deren Ziel- und Aufgabengebieten aus. So nebenbei erzählte er seinen neuen deutschen Freunden auch etwas über Wien und ein dort von Polen eingerichtetes Spionagenetzwerk. Dieses lieferte aus dem österreichischen Regierungszentrum Informationen nach Warschau, wo alles an kommunistischen Bruderländer weiter verteilt wurde.
Die Deutschen waren am Aushorchen Österreichs zwar nicht so besonders interessiert, gaben aber diesmal großzügig das Wiener Häppchen aus dem großen Plauderkuchen an ihre Freunde von der österreichischen Staatspolizei (Stapo) weiter. Diese wollte den Mann sofort haben. Aber in Bonn war man natürlich nicht bereit, den Überläufer den Österreichern zu überlassen.
Also wusch eine Sicherheitsdienst-Hand die andere, und zwei österreichische Ermittler durften zu den Deutschen kommen und den Überläufer unter deren Aufsicht befragen. Das ergab folgendes Bild: Einige Beamte des Innenministeriums lieferten den Polen für Geld regelmäßig auf Mikrofilm Informationen aus der Herrengasse. Der Ost-Geheimdienst hatte dazu in der Nähe des Ministeriums einen Kosmetiksalon eingerichtet, den die Herren in der Mittagspause besuchten.
Während sie sich entspannten, wurden ihre Filme in einem Kammerl verwertet. Die Befragung des Überläufers über nähere Umstände im Kosmetiksalon zeigte bald einen Schönheitsfehler: Er konnte sich an Namen der Spione in Österreich nicht gut erinnern. Da hatte einer der Stapo-Leute eine grandiose Idee: Er besorgte rasch aus Wien - erraten! - einen Amtskalender. Beim gemeinsamen Studium der Einteilung des Innenministeriums waren einige Verräter rasch gefunden. Was hätten die Stapo und der Überläufer wohl ohne Amtskalender getan?
Aber es gab ganz wienerisch für kaum jemanden Sanktionen: Als endlich alle Informationen in Wiener Amtstempo ausgewertet waren, kassierten die ausfindig gemachten Übeltäter bereits im wohlverdienten Ruhestand ihre Beamtenpension - die Sache war juristisch verjährt. Eine polnische Mittelsfrau werkte auch nach ihrem Geständnis noch jahrelang in der Wiener UNO-City und wurde dort anstandslos dreimal verlängert. Die Stapo forschte indessen lieber im Auftrag des inzwischen längst pensionierten Innenministers Karl Blecha (SPÖ), wie der Autor dieser Zeilen damals an die Stapo-Akten über den Fall gekommen war. Nach so vielen Jahren vergeblicher Suche sei das Geheimnis nun gelüftet: Die Kopie des Aktes ("Vertraulich - Für den Bundesminister") befindet sich heute in der Redaktion der "Wiener Zeitung".