Alle Wiener kennen ihn, und niemand wundert sich mehr, wenn er ihm begegnet", beschrieb der konservative Feuilletonist Raoul Auernheimer 1911 ein "Gespenst", das schon damals in allen europäischen Metropolen umging, sobald ein Immobilienboom ausgebrochen war: den "Häusertod". Sein "Gewerbe, das ein konzessioniertes oder zumindest toleriertes zu sein scheint", betreibe er in den älteren, malerischen Grätzln Wiens, so Auernheimer in der "Neuen Freien Presse", "denn er ist ein Feinschmecker. Wie ein Connaisseur, der in Antiquitäten schnüffelt, bleibt er vor den alten Portalen stehen, tritt durch gewölbte Torwege in stille, dunkle Höfe, geht über das holprige Pflaster, aus dessen Rinnen das Gras wächst, und schaut den Leuten, die da friedlich hausen, in die lichtscheuen Fenster. Aber wehe dem Objekt, für das er sich interessiert! Seine Fundamente mögen noch so fest gefügt, die Mauern noch so stark gebaut sein, unter dem Winken seines knöchernen Fingers bricht es alsbald zusammen und wird in einer Staubwolke begraben."

Hundert Jahre später sahen viele Wiener den Häusertod erneut in ihrer Stadt wüten, angefacht durch die Finanzmarktkrise von 2008, in deren Folge die Immobilienpreise auch hierorts kräftig anzogen. Unzählige gründerzeitliche und vorgründerzeitliche Gebäude wurden in den letzten Jahren durch "effizientere" und vor allem gewinnbringendere Neubauten ersetzt oder bis zur Unkenntlichkeit um- und ausgebaut. 2018 schließlich erschwerte das Rathaus den Abbruch von Häusern, die vor 1945 errichtet wurden - wohl auch, um den Imageverlust zu kompensieren, den die Stadtregierung durch ihren allzu willfährigen Umgang mit dem Weltkulturerbe Innere Stadt erlitten hatte. Zunächst standen tatsächlich viele Bagger still, die in den Monaten vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung im Akkord abrissen, was noch abzureißen war. Doch mittlerweile mehren sich scheinbar die Fälle wieder, in denen Bürger über das immobilienwirtschaftlich bedingte Verschwinden historischer Bausubstanz klagen: Allein in der Mollardgasse im 6. Bezirk mussten im Vorjahr drei Gründerzeithäuser weichen.

Eine Alternative zum Abriss ist das mutwillige Verfallenlassen von Altbauten. Diese Strategie ist hinlänglich erprobt, wenn es darum geht, Gebäude unter Denkmalschutz doch irgendwann einmal loszuwerden - und kommt einem in den Sinn, wenn man durch so machen äußeren Gründerzeitbezirk spaziert. In der Linzer Straße in Penzing etwa kann man sich angesichts des Zu-stands vieler Häuser kaum vorstellen, dass diese in zehn, fünfzehn Jahren immer noch stehen werden.

Manch einer wundert sich über die neu gebauten Komplexe, die offenbar nichts mehr mit der Stadt zu tun haben wollen. - © Reinhard Seiß
Manch einer wundert sich über die neu gebauten Komplexe, die offenbar nichts mehr mit der Stadt zu tun haben wollen. - © Reinhard Seiß

Mehrwert für Straßenraum und Stadtbild ist sekundär

"Es kommt selten was Besseres nach, lautet ein beliebter Spruch der Wiener", so Raoul Auernheimer 1911. "Man sollte dem Häusertod, öfter als dies geschieht, entgegenhalten." Fraglos lässt sich diese Forderung auf heute übertragen, denn der Wegfall mancher Altbauten wäre kein so großer Schaden, entstünden an deren Stelle Gebäude mit einem Mehrwert für Straßenraum und Stadtbild - wie dies in der Zwischenkriegszeit oder auch noch in den 50er Jahren respektabel gelang.

Tatsächlich aber beschränken sich die meisten heutigen "Nachverdichtungen" auf die maximale Ausreizung des zulässigen Bauvolumens und sind - bar jedes Architekturwettbewerbs oder sonstiger Qualifizierungsinstrumente - von bescheidener bis hin zu deprimierend banaler "Qualität", in funktionaler ebenso wie in ästhetischer Hinsicht.

"Es ist dies eine große Gefahr für das Wiener Stadtbild, ein Verlust an historisch gewordener, organischer Schönheit, den man sogar im Rathaus bedauert. Freilich, man beschränkt sich darauf, ihn zu bedauern", attestierte der gründerzeitliche Chronist, nicht ohne Vergleiche zu anderen Städten zu ziehen: "In Paris hat sich vor nicht allzu langer Zeit der Fall ereignet, dass der Besitzer eines Gebäudes an der Place des Vosges sich unterstand, einen Fensterkranz und einen Sims an seinem eigenen Haus zu ändern. Die Stadt Paris strengte ohne weiters einen Prozess gegen den frevelhaften Hauseigentümer an und gewann ihn, von der öffentlichen Meinung unterstützt. ,Non, s’il vous plaît!‘, sagte die Pariser Presse damals, sagte das Pariser Publikum, wie ein Mann. Bei uns nimmt man derlei gemütlicher."