Zu wenig Bauen mit sozialer Verpflichtung in Wien

Viele hiesige Bauherren und ihre Architekten erachten die "künstlerische" Freiheit in Bezug auf die Gestaltung ihrer Objekte heute geradezu als Grundrecht - und jedwede Einschränkung durch die Baubehörde als anmaßende Gängelung. Andernorts unterliegt das Bauen deutlich stärker einer gesellschaftlichen Verpflichtung sowie einer Verantwortung gegenüber dem gewachsenen Umfeld. Während in Wien "bewusste Brüche" mit einer städtischen Struktur mitunter als "belebende Irritationen" verkauft werden, akzeptieren Investoren und Planer im Münsterland beispielsweise den für die Region typischen Backstein als in sensiblen Zonen vorgeschriebenes Baumaterial selbst für moderne Objekte, um so das charakteristische Stadtbild beziehungsweise die traditionelle Kulturlandschaft zu erhalten.

Beim Ausbau von Hamburgs Hafencity - wahrlich kein Projekt rückwärtsgewandter Stadtromantiker - erhalten die planenden Architekten von der Entwicklungsgesellschaft konkrete Vorschläge zu Materialien und Farbtönen ihrer Fassaden. Auch in Münchens Neubaugebieten macht ein Kollegium angesehener Architekten der Kollegenschaft präzise Vorgaben bis hin zur Putzbeschaffenheit ihrer Häuser, während die Planungsbehörde für den öffentlichen Raum in der gesamten Stadt eine einheitliche Pflasterart vorschreibt.

Selbst in Österreich, vornehmlich im Westen des Landes, finden sich Kommunen, die eine klarere baukulturelle Haltung einnehmen, was weder den amtierenden Politikern noch den Bauherren zum Schaden gereicht - und tendenziell interessantere Architektur hervorbringt.

Verlässt man die in der Vor- und Zwischenkriegszeit geprägten Viertel Wiens, wird es nicht besser. Zwar verschwinden am Stadtrand sowie auf den großen Konversionsflächen aufgelassener Bahn- und Industrieareale in den meisten Fällen keine erhaltens-werten Altbauten, und wenn, dann - wie im Fall der jüngst abgebrannten Nordbahnhalle - nur "ungewollt". Doch fehlt hier die gewachsene Struktur, die einen städtebaulichen Rahmen für das Baugeschehen darstellen würde. Und der Wille seitens des Rathauses, eine neue - über ein Entwicklungsgebiet hinausgehende - Struktur vorzugeben und die Umsetzung dieser Vorgabe auch einzufordern, ist schon seit geraumer Zeit nicht mehr ersichtlich.

Neubauten zielen nicht auf ein schlüssiges Ganzes ab

So entstehen allenthalben Neubaugebiete, ohne dass diese Bausteine des zeitgenössischen Wien irgendwann einmal ein schlüssiges Ganzes ergeben könnten. Insbesondere nicht, wenn die einzelnen Gebäude nichts mehr miteinander zu tun haben wollen und in Summe nur noch ein zufälliges Nebeneinander Komplexe bilden, wenn die überbreiten Straßen dazwischen sie folglich auch nicht mehr verbinden und als Begegnungsräume der beiderseits lebenden Menschen fungieren, sondern sie beinahe burggrabenartig voneinander trennen. "Stadt" oder zumindest attraktive Quartiere mit ansehnlichen Straßenräumen werden so nicht entstehen. Ganz zu schweigen von einem Wien, das in diesen Teilen noch einen Wiedererkennungswert hätte und sich von gesichtslosen Städten ohne jede baukulturelle Tradition unterscheiden würde.

Geht diese Kritik am Ende doch etwas zu weit? Und ist der Vergleich mit den Qualitäten der gründerzeitlich geprägten Stadt nicht ein wenig platt? Gegenfrage: Gehen Sie, falls auch Sie in Wien leben, sonntags in der Seestadt Aspern spazieren? Nicht nur einmal, nein, immer wieder, auch mit ihren Kindern? Fahren Sie im Advent zum Eislaufen, Punschtrinken und Einkaufsbummeln in die Shopping City Süd hinaus? Zeigen Sie Besuchern aus dem Ausland stolz das neue Stadtviertel rings um den Hauptbahnhof? Haben Sie in der Donau City, in der Wienerberg City oder an sonst einem Ort, wo angeblich das moderne Wien entsteht, schon einmal Touristen gesehen, die vor Begeisterung die Kamera zückten? Und zuletzt: Glauben Sie, dass Sie, wenn erst einmal ein paar Jahrzehnte vergangen sind, auch diese Teile der Stadt als charmant oder gar schön empfinden werden?