Der Einwand, dass gerade die Schönheit vieler historischer Viertel ungeplant entstanden sei, greift zu kurz. Aus der Erforschung der mittelalterlichen Städte Bayerns ist etwa bekannt, dass ihnen sehr wohl urbanistische Überlegungen zugrunde lagen, die auf die Anmut der wichtigsten Straßenzüge sowie die Ensemblewirkung der Bebauung abzielten. Dazu kam freilich auch, dass es früher keine detaillierten Konzepte brauchte, um Maßstäblichkeit und eine gewisse Einheitlichkeit zu erwirken, zumal Form und Gestalt der Bauten ohnehin meist naturräumlichen und klimatischen Vorgaben, eingeschränkter Materialwahl, notwendiger ökonomischer Effizienz, regionalen Bautraditionen oder auch herrschaftlichen und gesellschaftlichen Normen folgten.

All diese Zwänge schwanden mit Ende der Nachkriegszeit. Spätestens in den 90er Jahren endete auch der Konsens, wie zu bauen sei. Nach Abklingen der problematischen Postmoderne gab es keinen architektonischen oder städtebaulichen "Leitstil" mehr. An dessen Stelle trat - ganz im Geiste der Zeit, doch in Wien noch stärker als in anderen Städten - ein uneingeschränkter Liberalismus: in der Planungspolitik ebenso wie bei vielen Bauherren und zahlreichen Architekten. Wobei der "Bauherr" zunehmend durch den sogenannten Projektentwickler abgelöst wurde, der nicht mehr für sich selbst baut, sondern oft spekulative Anlageobjekte für internationale Investoren kreiert, deren Aufmerksamkeit es mit immer spektakuläreren Gebäuden auf sich zu ziehen gilt.

Unter den Architekten wiederum reüssierten zuletzt selten jene, die sich ernsthaft den aktuellen sozialen oder ökologischen Fragen stellen, sondern die, die es verstehen, ihre teils schillernden, teils banalen Entwürfe wortreich als nachhaltig, urban und auch sonst ganz im Dienste der Allgemeinheit stehend schönzureden.

Es gibt nur noch "Stadtplanung light"

Damit einher ging ein sukzessiver Wandel im Rollenverständnis der einst selbstbewussten Wiener Planungsverwaltung, die sich aus ihrer Verantwortung für die städtebauliche und stadträumliche Qualität zurückzog und sich in eine stark politisierte "Stadtplanung light" fügte - mit der Begründung, in schnelllebigen Zeiten wie diesen besser kurzfristig und punktuell reagieren, als langfristig und gesamtstädtisch agieren zu wollen. Dass das Instrument des Bebauungsplans am Höhepunkt dieses Liberalismus um die Jahrtausendwende nicht gleich entsorgt wurde, was übereifrige Architekten tatsächlich forderten, ist wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass man in dieser Stadt ohnehin einen recht kreativen Umgang mit Bauvorschriften pflegt - der maßgeblichen persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen im Ernstfall auch gegen unliebsame Planungen zum Durchbruch verhilft.

Freilich hängt die urbane Qualität Wiens nicht nur am Gebauten, sondern auch am Freiraum dazwischen, insbesondere am öffentlichen Raum. Und was findet sich hier, ohne dass den meisten Bürgern im Alltag noch sonderlich auffallen würde? Ganze Wälder an Straßenverkehrszeichen und Hinweisschildern für Autofahrer, die - bezeichnenderweise auf Gehsteigen - in absurder Dichte gedeihen. Daneben wachsen zahllose Poller aus dem Boden, als ob das urbane Sensorium des zeitgenössischen Citoyens schon so degeneriert wäre, als dass er die Bedeutung einer Gehsteigkante nicht mehr ausreichend dechiffrieren könnte. An jeder Straßenecke Mistkübel und Zeitungsständer, an jeder zweiten wuchtige Sammelcontainer für Altglas, Altmetall und Plastik. Dazwischen Streugutkästen, allerlei Einbauten der städtischen Infrastruktur sowie Telefonzellen, die keiner mehr braucht.

Öffentlicher Raum wird zunehmend "vermüllt"

Apropos Werbung: Als ob die Flächen auf Plakatwänden, Litfaßsäulen und Stationsbauten des öffentlichen Verkehrs nicht gereicht hätten, um den urbanen Konsumenten lückenlos zu informieren, bereichern seit einigen Jahren noch riesenhafte "Rolling Boards" mit wechselnden, beleuchteten Plakaten hinter Glas Wiens Straßenzüge. Sie und andere Hindernisse im öffentlichen Raum werden euphemistisch als Stadtmöblierung bezeichnet. Zutreffender wäre es, summa summarum von einer beispiellosen Vermüllung der Stadt zu sprechen.

Und was ist mit Sitzbänken, Bäumen oder gar Alleen? Auch die gibt es natürlich - vor allem in Fußgängerzonen und runderneuerten Einkaufsstraßen, nicht zuletzt, um das Durchhaltevermögen der dort autolosen Kunden zu erhöhen. Herkömmliche Straßen hingegen scheinen weiterhin primär als Verkehrsräume verstanden zu werden, und nicht als Wohlfühlzonen.

Um diese Misere richtig einzuordnen, braucht es keinen Vergleich zum gründerzeitlichen Wien oder zu mittelalterlichen bayerischen Städten: Selbst Megacities in Südamerika, wie Sao Paolo, das ein komplettes Werbeverbot im öffentlichen Raum verhängt hat, oder Bogotá, wo innerhalb weniger Jahre die Autos zurückgedrängt und 100.000 Bäume gepflanzt wurden, beschämen alle für Wien und seine jüngste Entwicklung Verantwortlichen zutiefst.

Reinhard Seiß, Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien, ist Mitglied des Beirats für Baukultur im Bundeskanzleramt sowie der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.