Der Tod ist das Ende. Er beendet unser Leben unwiederbringlich. Er ist endgültig und absolut. Er ist die größte vorstellbare Zäsur. Mit ihm verlieren wir alles. Partner, Kinder, Eltern, Freunde, Gewohnheiten, Hobbys, Besitz, unser Bewusstsein. Der Tod macht uns Angst. Manchmal diffus. Manchmal direkt.
Naht er, haben sich Rituale etabliert, die Angst lindern. Die Hand halten. Über die Haare streicheln. Eine Kerze anzünden. Reden. Trost spenden. Ist der Tod eingetreten, schließt eine geliebte Person dem Verstorbenen Mund und Augen. Familie und Freunde nehmen vom Leichnam Abschied. Sie werfen eine Schaufel voll Erde ins Grab. Erzählen sich bei Rindfleisch mit Semmelkren Geschichten von früher. All das soll Schmerz und Trauer erträglich machen. Für die Sterbenden. Für die Hinterbliebenen.

All das ist derzeit oft nicht möglich. Zwar kennt nicht jeder jemanden, der in den vergangenen Monaten an Covid-19 starb. Jemanden, der starb, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber schon. Laut Statistik Austria sterben in Österreich jährlich rund 83.000 Menschen. Das sind 230 pro Tag. Etwa 50 Prozent im Krankenhaus. 20 Prozent in Alters- und Pflegeheimen, Hospiz- und Palliativeinrichtungen. Zuhause, im Kreis der Familie - sofern es eine gibt -, sterben die wenigsten.
Das Risiko des Besuchs
Sterberituale in Krankenhäusern zu vollziehen, ist ohnehin schwierig. In sterilen Zimmern will sich keine vertraute Atmosphäre einstellen. In Zeiten der Pandemie ist es nahezu ausgeschlossen. Sterbende können nur einzeln, kurz, mit Mund-Nasen-Schutz besucht werden. Auf den Covid-Stationen herrschen noch striktere Regeln. Einzig Palliativstationen wurden bisher von strengeren Maßnahmen ausgenommen. "Bei uns können die Angehörigen die Sterbenden angemessen begleiten", sagt Herbert Watzke, Leiter der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin am AKH Wien.
Im Frühling gingen Horrormeldungen aus Italien um die Welt. Kinder konnten sich von ihren Eltern nicht verabschieden. Enkel schickten ihren Großeltern per Video letzte Worte aufs Smartphone. Doch auch bei uns veränderte sich der Umgang mit dem Tod drastisch. Ein Sohn, der abwägen muss, ob er seine todkranke Mutter noch einmal besuchen soll - und sie damit dem Risiko auszusetzen, noch früher zu sterben. Eine Frau, die ihren Mann im Ehebett sterben hört - und am nächsten Tag ohne den Trost ihrer Geschwister allein in der Wohnung sitzt. Eine Großfamilie mit zehn Kindern, die nach dem Tod eines Bruders nicht zusammenkommen darf.
Die Corona-Pandemie konfrontiert uns gnadenlos mit längst Verdrängtem. Der Tod war lange tabu. Nun kommt er mit Pauken und Trompeten zurück. Unser Umgang mit ihm wird aber dennoch kaum diskutiert. Wir sind damit beschäftigt die Corona-Zahlen zu checken. Neuinfizierte? Verfügbare Intensivbetten? Ampelfarbe? Todesfälle? Die Art und Weise, wie diese Menschen sterben, interessiert jedoch niemanden. Und der voyeuristische Blick der Boulevardzeitungen auf die Särge in Bergamo ist kein echtes Interesse.
"Der Tod wird verdrängt"
"In unseren westlichen Gesellschaften wird der Tod zunehmend verdrängt", sagt Karin Gutiérrez-Lobos, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Moderne Intensivmedizin zögert ihn hinaus. "Die Fortschritte der Technologie suggerieren, dass wir die Natur bezwingen können. Wir beschäftigen uns kaum noch mit dem Thema." Nicht über den Tod zu reden, wurde in den vergangenen Jahrzehnten zum Dogma. "Das hat auch unsere Sterberituale beschränkt", sagt Gutiérrez-Lobos. Das Coronavirus bringt nicht nur unser Vertrauen in die Intensivmedizin ins Wanken. Es zerstört auch unserer Art zu trauern und zu trösten.
Mit gravierenden Folgen. "Durch die Corona-bedingt rigiden Zugangsbeschränkungen zu den Spitälern wird die Trauerarbeit stark limitiert. Der Tod kann von den Hinterbliebenen oft nicht begriffen werden", sagt Gutiérrez-Lobos. Im Regelfall legt sich die Trauer nach einem halben bis einem Jahr nach dem Tod eines geliebten Menschen. Fehlt eine angemessene Verabschiedung, kann sie sich zu einem pathologischen Trauma auswachsen. Die Psychiatrie spricht von einer andauernden Trauerstörung. Betroffene können nicht loslassen. Denken pausenlos an den Tod. Schuldgefühle, nicht für den Sterbenden da gewesen zu sein, plagen sie. Doch nicht nur die Hinterbliebenen leiden. Auch für den Sterbenden selbst ist der fehlende Trost, die Abwesenheit seiner Vertrauten belastend. "Wir sind soziale Wesen", sagt Gutiérrez-Lobos. "Wir brauchen Kontakt zu anderen Menschen, um emotional und körperlich zu überleben. Auch in den letzten Stunden unseres Lebens."
Angesichts der heranrollenden nächsten Corona-Welle muss die Frage erlaubt sein: Dürfen wir Menschen weiter allein sterben lassen? Gehen wir hier zu weit in unserer Anstrengung, das Virus einzudämmen?
Freiheit ist dieser Tage ein geflügeltes Wort. Im Milieu der Gegner der Corona-Maßnahmen hat es Inflation. Der Tenor geht in etwa so: "Was ist das für ein Leben, in dem wir uns die Freiheit zu leben nehmen lassen?" Sie meinen die Freiheit, sich nach Feierabend ein Bier im Stammbeisl zu genehmigen. Sich mit Freunden im Fußballstadion zu treffen. Ins Fitnessstudio zu gehen. Zu verreisen. Freiheiten, die keinesfalls geopfert werden dürften, um wenige Alte und Kranke zu retten. Im Grunde ist es eine utilitaristische Sicht der Dinge. Die Freiheit der Vielen wiegt mehr, als das Glück der Wenigen, medizinisch gut versorgt zu sein. Oder eine egoistische. Denn immerhin sind es nicht sie, die am Beatmungsgerät hängen.
Recht auf würdiges Sterben
Tatsächlich verzichten wir im Namen der Gesundheit auf viele Freiheiten. Schon lange. Wir zwingen uns zum Sport, obwohl wir lieber Fernsehen möchten. Wir haben aufgehört zu rauchen. Wir trinken weniger. Seit dem Ausbruch der Pandemie haben wir uns nahezu von unserem gesamten gewohnten Leben verabschiedet. Sogar den wirtschaftlichen Ruin nehmen wir in Kauf. Weil wir Angst haben. Angst um unser Leben und das Leben unserer Familien. Weil wir nicht schuld sein wollen am Tod der anderen. An überbelegten Intensivstationen. An zu wenig Personal. An Triage-Situationen im Krankenhaus. Dafür akzeptieren wir sogar, unsere Nächsten einsam sterben zu lassen.
Aber warum fordern so viele vergleichsweise profane Freiheiten, wie das Recht zu feiern, aber so wenige das Recht, würdig zu sterben? Wieso spricht jeder über die "Freiheit zu leben" und niemand über die "Freiheit zu sterben"? Warum schaffen wir es nicht, uns als Gesellschaft die Frage zu stellen, ob wir es verantworten können, Sterbenskranke der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen, um sie nicht alleine zu lassen? Warum führen wir diesen medizin-ethischen Diskurs nicht?
Auch in pandemischen Zeiten ist der Tod tabu. Unser Fokus liegt darauf, ihn zu vermeiden. Doch die Vermeidung bringt auch Verdrängung mit sich. Die Formel ist einfach. Je technologischer eine Gesellschaft, desto fester verschließt sie die Augen vor dem Tod. Desto weniger diskutiert sie ihren Umgang mit ihm. Desto weniger überwindet sie ihre Todesangst. In der Antike war es völlig selbstverständlich, über den guten Tod zu reden. In der Pandemie begegnet er uns als kalte Zahl auf dem Bildschirm. "Auch die Todeszahlen steigen wieder", heißt es in den Nachrichten. Das Sterben der Menschen verschwindet dahinter. Wir sollten endlich darüber reden.