Sprechen wir vom Charme von Wien, meinen wir eigentlich sie. Stellen wir uns Wien vor, denken wir an sie. Einzeln sind sie vernachlässigbar. Teilchen. Bruchstücke. Partikel des Konglomerats Stadt. In ihrer Summe sind sie elementar. Gemeinsam geben sie der Stadt ihr Gesicht. Manche sind opulent, manche marode. Und doch gehören sie zur selben Spezies - dem gemeinen Wiener Zinshaus der Gründerzeit.

Als diese haben sie das selbe Problem. Sie geraten zunehmend unter Druck. Die Dynamik der wachsenden Stadt hat auch sie erfasst. Sie werden aufgestockt, geschleift, entkernt, verdichtet, entwickelt. Sie verändern sich. Und mit ihnen die ganze Stadt. Die Transformation des Teilchens spiegelt die Transformation der Stadt. Denn das Teilchen bestimmt die Stadtstruktur. Mit ihm steht und fällt die Lebensqualität Wiens.

Unter Gründerzeit-Zinshaus versteht der Wiener Gebäude, die vor 1919 erbaut und - großteils unbefristet - vermietet wurden. Viele sagen auch Altbau. Die Wiener Gründerzeithäuser befinden sich nahezu ausnahmslos in Privatbesitz. Wohlhabende Witwen, Bankiers, Spekulanten, Großbürger zogen ab 1840 ganze Viertel hoch - quer über die Stadt. Wiens Bevölkerung wuchs exponentiell und knackte um die Jahrhundertwende die Zwei-Millionen-Marke. Der Wohnraum war knapp. Die Häuser waren ein gutes Geschäft. Die Statistik Austria zählte im Jahr 2019 32.400 Gebäude mit Baujahr vor 1919 - die überwiegende Mehrheit aus der Gründerzeitepoche. Das sind rund 20 Prozent aller Wiener Bauten.

Bis 2018 wurden in Wien etwa 115 Gebäude pro Jahr abgerissen. - © Rösner
Bis 2018 wurden in Wien etwa 115 Gebäude pro Jahr abgerissen. - © Rösner

Die Zinshäuser stehen an jeder Ecke. Je näher dem Zentrum, desto enger beieinander. Ihre bauliche Dichte nimmt zur Mitte hin stark zu, während die Bevölkerungsdichte abnimmt. In der Innenstadt haben die vielen Gründerzeithäuser also weniger - und dafür oft größere - Wohneinheiten. Hier sind sie prunkvoll gestaltet, mit Ornamenten, Plastiken, Stuck überladen. Jenseits des Gürtels - in der einstigen Vorstadt - sind sie häufig verwahrlost, der Putz bröckelt, die Fenster zugig, das Dach leck. Doch egal ob repräsentativer Palast oder Arbeiterbaracke. Die Grundstruktur des Zinshauses ist hier und dort gleich. Und die prägt Wien bis heute.

Vorteil gegenüber Neubau

"Das gründerzeitliche Zinshaus hat einen riesigen Vorteil gegenüber dem Neubau", sagt Angelika Psenner. Die Professorin an der TU Wien forscht seit Jahren zum Thema Stadtparterre. "Das Zinshaus ist nutzungsoffen. Es ist ein Stadthaus, kein Wohnhaus. Die hohen Räume der Gebäude eignen sich nicht nur zum Wohnen. Sie sind offen für fast jede Nutzung." Im Zinshaus kann der Zahnarzt ordinieren, der Tischler Möbel bauen, der Fleischer Lungenbraten verkaufen, ein Kino, eine Boulderhalle, ein Kindergarten, ein Karosserieschlosser eröffnen. "Hier wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewohnt und gearbeitet. Heute entstehen Areale, in denen nur gewohnt wird, und Areale in denen nur gearbeitet wird. Diese Trennung der Funktionen ist ein Irrweg", sagt Psenner. "Sie führt zur Entstehung von Schlafstädten, fördert das Gefühl der Unsicherheit, steigert das Verkehrsaufkommen." Im Gründerzeitviertel braucht niemand ein Auto. Supermarkt, Trafik, Bäcker, Beisl, Blumengeschäft - alles in wenigen Minuten zu Fuß erreichbar. Hier kommt Wien dem Ruf einer Weltstadt am nächsten. Hier ist die Stadt vielfältig und lebendig.

Die kleinteilige Struktur der Gründerzeit-Grätzl macht sie über die Schichten hinweg begehrt. Die hohen Wohnungen mit ihren Dielenböden und mehrflügeligen Fenstern stehen nie lange in den Immobilien-Teilen der Zeitungen. Der Uniprofessor lebt hier genauso wie sein Student, die hochbezahlte Managerin, die Oma mit Mindestpension. Und sie werden mehr. Von 2008 bis 2017 wuchs Wien um 201.000 Menschen. 27 Prozent von ihnen zogen ins Gründerzeit-Zinshaus. Einzig der Neubau hat mit 32 Prozent eine höhere Rate.

Die Stadt wächst also nicht nur an ihren Rändern wie in der Seestadt Aspern, in ihren großen Entwicklungsgebieten wie im Sonnwendviertel, am Nord- und Nordwestbahnhof. Sie wächst auch im Inneren, im Kern, im Bestand, im Gründerzeithaus. Der Wiener Altbau ist nicht nur bei Mietern beliebt. Auch Investoren, Immobilienspekulanten, Baulöwen haben Lunte gerochen. Zinshäuser wechseln seit Jahren zu Rekordpreisen den Besitzer. Laut einem Marktbericht von Otto Immobilien wurden 2019 insgesamt 1,6 Milliarden Euro für Wiener Zinshäuser bezahlt. Heuer rechnet man mit 1,2 Milliarden, trotz Corona-Krise und der dadurch verschobenen Geschäfte. Der Investment-Boom geht auch am Objekt der Begierde selbst - dem Zinshaus - nicht spurlos vorüber. Dem Investor geht es naturgemäß vorwiegend ums Geld. Mit der Vermietung unsanierter Altbauwohnungen wird das allerdings nur zaghaft mehr. Altbaumieten sind in Österreich gedeckelt. Das große Geld liegt entweder im gehobenen Neubau oder im Verkauf von sanierten Altbauwohnungen. Beide Möglichkeiten schaden der originären Struktur des Zinshauses.

Noch vor wenigen Jahren wurde in Wien regelmäßig die Abrissbirne geschwungen. Es war gang und gäbe, Zinshäuser außerhalb der Schutzzone abzutragen und durch gewinnbringende Neubauten zu ersetzen. Bewilligung brauchte es dafür keine. Genau Zahlen, wie viele Gründerzeithäuser verschwanden, gibt es daher auch keine.

Überprüfungen seit 2018

Der damalige grüne Gemeinderat Christoph Chorherr ging 2018 von etwa 115 Objekten pro Jahr aus. Es entbrannte eine hitzige Debatte. Denkmalschützer sahen das Stadtbild bedroht. Altmieter verloren ihr Zuhause. Selbst bewohnte Gebäude wurden abgetragen. Die Stadt handelte. Sie verabschiedete eine Gesetzesänderung. Häuser mit Baujahr vor 1945 dürfen ohne Bewilligung nicht mehr geschleift werden. Seit 1. Juli 2018 muss die MA 19 (Architektur und Stadtgestaltung) überprüfen, ob öffentliches Interesse am Erhalt besteht.

"Die Zahl der Abbrüche ist seither zurückgegangen", heißt es aus dem Büro von Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (SPÖ) auf Anfrage der "Wiener Zeitung". "Trotzdem gibt es eine Reihe von Abbruchansuchen. Die Baupolizei prüft diese sehr genau. Der Schutz der Gründerzeithäuser ist nicht vollständig, weil aus verfassungsrechtlichen Gründen (Schutz des Eigentums) bei fehlender Wirtschaftlichkeit einer Sanierung der Abbruch bewilligt werden muss." Konkrete Zahlen kann die Stadt bis Redaktionsschluss keine liefern. Ein Rundruf bei den Abrissfirmen zeigt jedoch, dass weiter auch alte Gebäude geschleift werden, "wenn auch viel weniger", sagt der Eigentümer einer Firma. Er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Bauträger hätten Alternativen zu den Gründerzeithäusern gefunden. Sie würden nun Garagen und leerstehende Industrieanlagen in gewinnbringenden Lagen schleifen lassen.

Mietrecht fördert Abrisse

Hans Jörg Ulreich hält von der Gesetzesänderung "gar nichts". Der Sprecher der Bauträger der WKO und Gründer der Ulreich Bauträger GmbH hat sich auf die Sanierung von Altbauten spezialisiert. "Die Zinshäuser werden durch das Abrissverbot nicht gerettet. Wir brauchen eine Änderung des Mietrechts", sagt er. "Die Bausubstanz in Wien ist katastrophal. Aber niemand wird Zinshäuser teuer sanieren, wenn es keinen Gewinn bringt." Denn in Wien ist die Miete von Altbauten gedeckelt. Unsanierte Nachkriegsbauten können zu viel höheren, marktüblichen Preisen vermietet werden als sanierte Altbauten. Erst die Deckelung mache den Abriss attraktiv, argumentiert Ulreich. "Solange Altbaumieten gedeckelt sind, wird die Tendenz immer in Richtung Abriss und Neubau gehen," sagt er. "Eine Aufhebung der Mietdeckelung obliegt dem Bundesgesetzgeber", heißt es von der Stadt. Sie verweist außerdem auf umfangreiche Fördermittel für die Sanierung von Altbauten.

Per se hat Verena Mörkl nichts gegen den Neubau. Die Architektin hat am "Masterplan Gründerzeit" der Stadt Wien mitgearbeitet. "Die Frage ist immer, was dem Abriss folgt, ob etwas Besseres nachkommt." Bisher habe sich die Hoffnung leider nicht wirklich erfüllt. "Das Parterre vieler Neubauten besteht zu einem Drittel aus Garageneinfahrt, zu einem Drittel aus Müllraum, zu einem Drittel aus Eingang." Die Raumhöhe werde auf das gesetzliche Mindestmaß gestaucht, um darüber möglichst viele Wohnungen unterzubringen. "Urbaner Flair wie in den Gründerzeitvierteln entsteht so keiner." Und zwar lange nicht. Die Erdgeschosszonen seien unflexibel geplant. Nachnutzung ist kaum möglich. Solange das Haus steht, wird hier dem öffentlichen Raum Belebung entzogen.

In den vergangenen Jahren sind Zinshäuser zunehmend von Gerüsten verstellt. Baukräne werfen Schatten auf ihre Fassaden. Ihre Dachböden werden in Luxuswohnungen mit Blick über die Stadt umgebaut. Wurde der Abriss nicht genehmigt, bleibt oft nur die Flucht nach vorne. Die Häuser werden aufwendig saniert und in Stücken verkauft. Der zweite gangbare Weg der Investoren, mit Zinshäusern aus der Gründerzeit Geld zu verdienen, ist die sogenannte Parifizierung. Ein Zahnarzt aus Oberösterreich kauft sich eine Vorsorgewohnung in einem Hernalser Prunkbau. Ein Rechtsanwalt aus Tirol das dritte Geschoß eines Simmeringer Arbeiterzinshauses. Als reine Geldanlage, als Betongold in Krisenzeiten. "Die Parifizierung reduziert das Angebot günstiger Mieten in der Bundeshauptstadt", sagt Mörkl. "Außerdem ist sie städtebaulich problematisch."

In der Gründerzeit gehörten die Bauten einzelnen Privatpersonen, die entweder selbst in der Beletage wohnten, oder gleich einen ganzen Straßenzug kauften. Ihnen lagen die Häuser am Herzen, sie hielten sie in Schuss, sie kannten die Werkstatt des Buchbinders im Parterre, sie kannten sogar seine Frau. Werden heute Zinshäuser in Eigentumswohnungen zerstückelt, muss der Schlosser im Erdgeschoß seine Werkstatt räumen. Gewerbe im Haus ist schlecht für das Geschäft. Potentielle Lärmbelästigung mindert den Kaufpreis.

Soziale Durchmischung

Der Trend zur Eigentumswohnung im Gründerzeitbestand hemmt die soziale Durchmischung. "Ganze Grätzl werden von einer sozial homogenen Gruppe bewohnt", sagt Mörkl. Der Student trifft seinen Professor nicht mehr beim Einkaufen. Das ist das Gegenteil von Stadt. Im Wiener Zinshaus lebten zur Gründerzeit Bürgerliche neben Unternehmern, Handwerkern, Tagelöhnern - Angehörige verschiedenster sozialer Schichten - unter einem Dach. In einem sanierten Zinshaus mit Dachausbau ist das heute kaum denkbar.

Erdgeschoße veröden

Das Wiener Zinshaus der Gründerzeit hat viel erlebt - zwei Weltkriege, den Wiederaufbau, Wirtschaftskrisen, den Kalten Krieg, gesellschaftliche Umschwünge. Nun wächst Wien wieder. Die Stadt erlebt ihre zweite Gründerzeit. Der Druck auf den Wohnungsmarkt steigt. An allen Ecken und Enden wird gebaut. Doch diesmal ist alles anders. Leistbarer Wohnraum nimmt ab, die Erdgeschoße veröden, die Strukturen werden monofunktionaler. Die Entwicklung läuft einer urbanen, vielfältigen, durchmischten, sozialen Stadt der kurzen Wege entgegen. Qualitäten, die Stadtplaner immer vehementer fordern. Qualitäten, die das Gründerzeit-Stadthaus seit 180 Jahren vereint. Sie geben Wien Atmosphäre und Charme. Nicht die prunkvollen Fassaden der Zinshäuser stiften Identität. Die Struktur dahinter formt die Stadt.