Es sind jene Menschen, die aufzeigen, dass das soziale Netz in Österreich an manchen Stellen nicht engmaschig genug ist, um alle aufzufangen. Vielleicht ist dieses Vor-Augen-Führen eines möglichen Scheiterns, des Wegfalls jedweder sozialen und medizinischen Unterstützung auch der Grund, warum sie oft angefeindet werden, die Obdachlosen. Der Verband Wiener Wohnungslosenhilfe hat den Situationsbericht 2022 vorgelegt und sich dieses Mal vor allem den Schicksalen jener gewidmet, die das ganze Jahr über in Hauseinfahrten, Parks oder unter Brücken ihr Leben verbringen - die nicht anspruchsberechtigten Personen, die durch das Netz Gerutschten, die Unsichtbaren.

Die Wohnungslosenhilfe in Wien gilt als vorbildlich. "Dennoch", so der Tenor einer Pressekonferenz des Verbandes, "haben in der Bundeshauptstadt aktuell nur jene Anspruch auf soziale Leistungen, die ganz spezifische rechtliche Rahmenbedingungen erfüllen oder dokumentiert arbeiten." "Das aktuelle Hilfssystem ist nicht nur unzureichend", ergänzt Elisabeth Hammer, Geschäftsführerin des Neunerhauses, "sondern auch unvollständig: Die Gruppe der nicht anspruchsberechtigten Personen scheint quasi nicht auf und wird somit in vielerlei Hinsicht vergessen."

Wohnrecht für jeden fordert die Wohnungslosenhilfe. - © Manfred Weis
Wohnrecht für jeden fordert die Wohnungslosenhilfe. - © Manfred Weis

Neben dem Neunerhaus gehören dem Verband Wiener Wohnungslosenhilfe neun weitere Organisationen, wie der Samariterbund, die Caritas, die Diakonie oder die Volkshilfe an. Er arbeitet eng mit dem Fonds Soziales Wien zusammen, um Menschen, die auf der Straße leben, wieder Perspektiven zu geben.

Menschen ohne Anspruch auf Sozialhilfe oder medizinische Betreuung sind laut Hammer, "meist 30 bis 50 Jahre alt", der Großteil aus anderen, meist EU-Ländern, zugewandert, um nach Arbeit zu suchen.

Herr P., 45, kam aus der Slowakei nach Wien, um seine Frau und seine sieben Kinder ernähren zu können. Die Wohnungslosenhilfe hat ein Interview mit dem Mann aus der Volksgruppe der Roma geführt, das der "Wiener Zeitung" vorliegt.

Das Scheitern

"Ich habe mich wirklich bemüht. Ich war sogar ein paar Monate selbständig. Im Bauwesen", erinnert sich Herr P. an seine Zeit in der südlichen Slowakei, seiner Heimat, zurück. "Mein ältester Sohn und ich haben eine kleine Firma gegründet. Wir hatten aber nicht viele Aufträge. Und falls es uns schon gelungen ist, einen Auftrag zu bekommen, hatten wir nicht genug Geld, um zum Beispiel das Material einzukaufen. Und somit haben wir noch Schulden gemacht."

Zwei Jahre Arbeitslosenversicherung innerhalb der letzten vier Jahre wären in der Slowakei nötig, um Anspruch auf sechsmonatige Auszahlung des Arbeitslosengeldes zu erlangen. Vor allem Nicht-Qualifizierte, Saisonarbeiter oder junge Erwachsene haben diesbezüglich kaum Chancen. Die Notstandshilfe als Folgeleistung beträgt maximal 68,80 Euro pro Monat, rechnet der Verband der Wohnungslosenhilfe vor. Diese kann auf 15,10 Euro pro Monat gekürzt und mit bis zu 32 Stunden gemeinnütziger Tätigkeit verknüpft werden.

In der Slowakei werde es ihm nicht geglaubt, dass er wirklich arbeiten möchte, sagt Herr P. "Meistens bekomme ich eine Absage, noch bevor ich mich hinsetzen kann, einfach weil ich nicht weiß bin. Alle glauben, dass uns die Sozialleistungen fürs Leben ausreichen müssen. Sie haben aber keine Ahnung. Ich kenne niemanden, der alleine von den Leistungen reich geworden ist. Niemanden."

Der heute 45-Jährige beschloss, im nahen Wien nach Arbeit zu suchen. Elisabeth Hammer versucht, das oft in der Öffentlichkeit transportierte Bild von Sozialschmarotzern oder Wirtschaftsflüchtlingen zu korrigieren. "Es braucht sehr viel Mut, die eigene Familie, die Heimat zu verlassen, um in einem fremden Land, dessen Sprache man nicht spricht, auf Jobsuche zu gehen oder eine neue Existenz aufzubauen."

Der lange Weg

"Ich bin nach Wien gefahren. Untertags habe ich die Baustellen abgeklappert und gehofft, irgendwen zu treffen, der slowakisch oder ungarisch sprechen kann", erinnert sich der 45-jährige Slowake an seine erste Zeit in Österreich zurück. "Geschlafen habe ich in den Parks, wo mich auch eines Tages die Sozialarbeiter angetroffen und mich in ein Notquartier geschickt haben. Ich war eigentlich froh. Die Kräfte gingen mir schnell aus." Dort habe er mit der Zeit einen Mann kennengelernt, der ihm "endlich zu meiner ersten Arbeit geholfen" habe. P. sei es gewohnt, hart zu arbeiten. "Auch wenn der Chef nicht genug Geld hatte, uns alle auszuzahlen, hatte ich Verständnis. Ich war ja schließlich auch in der Baubranche tätig. Und er ist ein fairer Mann. Für ihn spielt es keine Rolle, ob ich ein Roma bin oder wie viele Kinder ich habe. Für ihn zählt nur, ob ich gut arbeiten kann."

31,5 Prozent der 1,9 Millionen Einwohner von Wien besitzen eine ausländische Staatsbürgerschaft. Die Armutsgefährdung liegt bei diesen Menschen bei 34 Prozent; bei Österreichern bei 14 Prozent. Obdachlosen EU-Bürgern werden von der Stadt Wien in den Wintermonaten 900 zusätzliche Schlafplätze zur Verfügung gestellt. 75 Prozent derer, die dort nächtigen, sind Migranten.

Während der Pandemie stellte die Stadt Wien die für die kalte Jahreszeit gedachten Notquartiere ganzjährig zur Verfügung. "Wir fordern auch in den Zeiten nach der Pandemie eine ganzjährige und ganztägige Öffnung der Winterquartiere", sagt Joschi Sedlak, Geschäftsführer der ebenfalls zum Verband gehörenden ARGE Wien. Das stünde der Stadt Wien als Stadt der Menschenrechte jedenfalls gut zu Gesicht. "Menschen, die gesundheitliche Betreuung brauchen, befinden sich momentan in einer Abwärtsspirale", so Sedlak.

Der Mythos

Der Verband Wiener Wohnungslosenhilfe will mit dem "Mythos Pull-Effekt" aufräumen, also mit jenem angeblichen Phänomen, dass leichter Zugang zu Schlafstellen automatisch eine stärkere Zuwanderung nach sich ziehe. Im Winter 2011/12 wurden in Wien erstmals Unterkünfte angeboten. 200 Nächtigungsplätze standen damals zur Verfügung. Die Zahl stieg in den ersten zwei Jahren zwar rasant auf 1.200 an, pendelte sich aber rasch auf konstant 900 Plätze ein.

"30 bis 40 Prozent der Menschen, die unsere Winterquartiere nutzen, nutzen das Angebot nur zehn Tage", sagt Oliver Löhlein, Geschäftsführer des Samariterbundes Wien. "Ein Viertel, das sind rund 230 bis 240 Personen, bleibt bis zu 90 Tage. Diese sind besonders vulnerabel und leben meist schon mehrere Jahre in Wien."

Wien ist in Österreich der Brennpunkt. Viele, die hierher kommen, versprechen sich eine bessere Zukunft. "Als Hauptmotiv für die Reise nach Wien nannten 63 Prozent der Nutzer der Winternothilfe ,Arbeit finden‘", heißt es im Situationsbericht des Verbandes Wiener Wohnungslosenhilfe. "Viele Menschen stranden allerdings völlig mittellos in Wien, da sie gänzlich unzutreffende Vorstellungen von dem hatten, was sie hier erwarten würde."

Existenzkampf

Selbst wenn jemand Arbeit findet, ist er nicht vor der Abwärtsspirale gefeit, wie das Beispiel der aus Kroatien stammenden Frau S. zeigt. Sie wohnt seit 2008 in Wien und arbeitete bis 2013 für ein Reinigungsunternehmen. Dass ihr Arbeitgeber sie nicht ordnungsgemäß angemeldet hatte, erfuhr sie erst nach einem Arbeitsunfall. "Von diesem Zeitpunkt an wurde ihr Leben zum nicht enden wollenden Existenzkampf", heißt es seitens der Wohnungslosenhilfe.

Ausreichend Versicherungsjahre wurden vom Staat trotz erfolgreicher Klage gegen den Arbeitgeber wegen teilweiser Verjährung nicht anerkannt. Verwaltungsstrafen für Unternehmer, die Mitarbeiter schwarz beschäftigen, wurden unter der türkis-grünen Regierung im Jahr 2021 zudem deutlich abgeschwächt. Ihr hohes Alter und aus dem Arbeitsunfall resultierende Probleme machten Frau S. am Arbeitsmarkt nahezu unvermittelbar. Bekannte und Sozialorganisationen halfen ihr, sich über Wasser zu halten. Die Corona-Pandemie tat ihr Übriges, weil Frau S. auch noch die Möglichkeit verlor, sich als Kinderbetreuerin ein wenig Geld dazuzuverdienen. Sie verlor ihre Wohnung. Das AMS meldete sie ab, weil sie offiziell im Pensionsalter war. "Mit 63 fand sie sich mittellos und ohne ihre eigenen vier Wände wieder", so der Verband. Frau S. sei kein Einzelfall, wie man betont.

Der Schlüssel, speziell für Frauen, "für eine Perspektive in Österreich ist eine gültige Aufenthaltsbewilligung mit Arbeitsmarktzugang", heißt es seitens der Wohnungslosenhilfe. "Wird Frauen diese verwehrt, drängt man sie in Abhängigkeit oder problematische Bewältigungsstrategien und übt strukturelle Gewalt aus." Scheinehen oder sexuelle Dienstleistungen stellen dann für viele den letzten Ausweg dar.

Bestehe kein Zugang zum Arbeitsmarkt und kein Anspruch auf Grundsicherung, "sind Frauen gezwungen, undokumentierter Arbeit nachzugehen, die sie in eine Abhängigkeit vom Arbeitgeber bringt und keine rechtlichen Absicherungen bietet", erklärt man seitens des Verbandes. "Oder sie bleiben in konfliktreichen Beziehungen, weil sie keinen Weg aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Gefährder finden. Dieses strukturelle Gefangenhalten führt im schlimmsten Fall zu moderner Sklaverei."

Eine Anmelde-Bescheinigung von EU-Bürgern ist an ein österreichisches Konto und eine österreichische Krankenversicherung geknüpft. "Für Menschen ohne Beschäftigungsverhältnis oft eine unüberwindbare Hürde", erklärt die Wohnungslosenhilfe. In Österreich leben zehntausende Menschen, die aufgrund eines fehlenden Rechts- oder Beitragsstatus von den im Sozialversicherungssystem enthaltenen kostenlosen oder kostenverringernden Krankenbehandlungen ausgeschlossen sind. "Da ist etwa die Familienmanagerin, die sich für die Familie entscheidet und bei ihrem Mann mitversichert wird", schildert man seitens des Verbandes. "Irgendwann geht die Ehe in die Brüche und die Frau bemerkt erst in der Notfallambulanz, dass sie nicht versichert ist. Eine Versicherungslücke, die unbemerkt auch Jahre bestehen kann und im Falle eines Krankenhausaufenthalts sehr hohe Kosten zur Folge hat."

Der Gesundheit vieler Menschen wird auch übel mitgespielt, weil sie keine dauerhafte Bleibe haben. "Menschen müssen in der Früh die Einrichtungen wieder verlassen", sagt Oliver Löhlein vom Samariterbund. "Sie haben keinen Rückzugsort, keine Intimsphäre." Die psychische Belastung führe immer wieder zu Krankheiten. Ein Phänomen, dass die Wohnungshilfe beobachtet: "Menschen, denen es nach dem Aufenthalt im Winter wieder besser geht, kommen im nächsten Winter in noch schlechterem Gesundheitszustand zu uns zurück." Das belaste auch die Mitarbeiter der Einrichtungen.

Rettungseinsätze und Krankenhausaufenthalte könnten, so Löhlein, durch dauerhafte Quartiere für sonst in Obdachlosigkeit Lebende stark reduziert werden. "Bei 160 Personen bringt das im Gesundheitssystem Einsparungen von 3,2 Millionen Euro pro Jahr." "Wir brauchen ein Recht auf Gesundheitsversorgung und auf Wohnen", fordert Elisabeth Hammer vom Neunerhaus, die von rund 900 Betroffenen in Wien spricht.

Angekommen

Herr P. aus der Slowakei hat es möglicherweise geschafft: "Seit drei Monaten arbeite ich offiziell und pendle zwischen Wien und meiner Familie." Falls es ihnen gelänge, die Situation gut zu bewältigen, dann werde auch die restliche Familie nachkommen. "Denn auch wenn es mir leidtut, ich kann nicht ewig pendeln und ich sehe keine Zukunft für uns in der Slowakei. Aber da (in Wien, Anm.) kann ich als Mensch leben."