Um 1.52 Uhr fährt er los, der Bus, raus an den Stadtrand. Dorthin, wo die Blumen warten. Immerhin für ein paar Minuten hatte Rose Mwende Schwinn diesmal die Augen zugemacht, bevor sie in ihre Stiefel geschlüpft und losmarschiert ist. Es dampft aus den Kanaldeckeln, als sie mit den leeren Kisten, mit Spanngurten an eine Rollkarre gezurrt, an der Haltestelle im Zentrum Wiens, wartet. Der Nachtbus kommt pünktlich. Gekonnt wuchtet die Frau, deren Bewegungen immer ruhig und bedacht wirken, ihr Wagerl in den Bus, stellt es dort ab, wo tagsüber Kinderwägen fixiert werden, und setzt sich in die erste Reihe. Hinter ihr hocken Jugendliche, die so ausschauen, als wollten sie ins nächste Lokal oder endlich nach Hause. Mwende Schwinn hat anderes vor: Sie will zu ihren Blumen.

Die 42-Jährige wischt durch ihren Instagram-Feed, sieht Bilder von Blumensträußen. Ach, Ranunkeln wären schön. Aber ob es heute welche zu kaufen gibt? Welche Händler werden überhaupt da sein, jetzt, zu der noch kühlen Jahreszeit?, fragt sie sich.

Blumen sind inzwischen auch Massenware

Ein- bis zweimal pro Woche fährt die gebürtige Kenianerin zum Großgrünmarkt nach Inzersdorf. - © Stefan Schauhuber
Ein- bis zweimal pro Woche fährt die gebürtige Kenianerin zum Großgrünmarkt nach Inzersdorf. - © Stefan Schauhuber

Mwende Schwinn ist Blumenhändlerin. Sie verkauft Schnittblumen. Und diese so frisch wie möglich: die Blüten kaum geöffnet, die Blätter sattgrün, die Stängel knackig fest. "Je frischer die Blumen, umso länger haben die Kunden Freude daran", sagt Mwende Schwinn, die lieber Englisch spricht, sich aber stets ermahnt, Deutsch zu reden.

"Wenn du Blumen verkaufst und nicht nett bist, was ist dann los mit dir?", fragt sich Rose Mwende Schwinn. 
- © Schauhuber

"Wenn du Blumen verkaufst und nicht nett bist, was ist dann los mit dir?", fragt sich Rose Mwende Schwinn.

- © Schauhuber

Ein- bis zweimal pro Woche fährt sie deshalb hinaus zum Großgrünmarkt nach Inzersdorf. Immer mit dem Nachtbus, denn Auto hat sie keines. Blumentransport im Linienbus. Die Menschen würden gar nicht sehen, wie viel Arbeit hinter dem Verkauf von Blumen steckt. "Wenn ich gewusst hätte, dass es so schwierig ist, hätte ich vielleicht nie angefangen", sagt Mwende Schwinn. Sie lacht, und doch meint sie, was sie gesagt hat.

Während die Arbeit der Blumenverkäuferin mit der Fahrt im Nachtbus beginnt, geht für die Blumen, die sie am Großmarkt kaufen will, eine lange Reise langsam zu Ende. Frische Schnittblumen fliegen oft um die halbe Welt, bevor wir sie bei uns in Vasen stecken. Wenn nicht aus den Niederlanden, kommen sie meist aus Südamerika oder Ostafrika nach Österreich. Durchgängig gekühlt, per Flugzeug, Schiff und Lkw.

Auch Blumen sind heute zumeist Massenware. Billig und jederzeit verfügbar. Angepflanzt in Monokulturen und gepflückt von schlecht bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern. Doch trotz allem: Blumen machen uns glücklich. Sie bringen Farbe in unseren Alltag. Und wir machen mit ihnen anderen Freude. "Blumen machen etwas mit uns. Sie geben uns Energie", sagt Mwende Schwinn. Sie weiß um das kleine Rosenglück, kennt die große Schattenseite des Geschäftes und auch sie lebt mit den Widersprüchen. Sicher ist: Ihr Leben würde ohne Blumen heute ganz anders aussehen.

Der Großhandel mitten im Nirgendwo

Nach knapp 40 Minuten hält der Nachtbus am Stadtrandnirgendwo. Einfamilienhaussiedlung und Lagerhallenambiente. "Siedlung Blumental" zeigt die Anzeige. Von hier geht es zu Fuß weiter. Mwende Schwinn rumpelt mit ihrem Wagerl durch leere Straßen und erreicht wenig später die Hallen des Großmarktes.

Ein paar Männer schieben gerade Wagen mit Pflanzen durch die Gänge. Im Sommer sei hier alles voll, sagt Mwende Schwinn. Doch zu dieser Jahreszeit offerieren nur eine Handvoll Händler ihre Ware. Nach Blumen duftet es trotzdem in der Halle.

"Hoffentlich bin ich nicht umsonst rausgefahren", sagt die Wahlwienerin. Sie schaut auf die Uhr. Sie weiß, sie darf den Bus retour nicht verpassen, sonst muss sie mit den Blumen auf die erste U-Bahn warten. Es bleibt also nicht viel Zeit, die schönsten Blumen auszusuchen. Die Schnittblumen hier in der Halle werden meist auf Blumenbörsen in den Niederlanden gehandelt und stammen jetzt im Winter großteils aus tropischen Ländern. Dort wachsen sie das ganze Jahr über und müssen nicht in beheizten Gewächshäusern gezogen werden. Die beliebteste Blume, die Rose, kommt meist aus Ecuador, Kolumbien oder aus Kenia. Dort ist auch Mwende Schwinn aufgewachsen. Das mit den Blumen, das begann jedoch in Österreich.

An den Moment erinnert sich Mwende Schwinn noch genau. Im Büro ihres Mannes sieht sie einen Blumenstrauß, und ohne je zuvor mit Blumen gearbeitet zu haben, denkt sie: "Das kann ich auch!" Das war vor eineinhalb Jahren. Seither steht sie mit ihren Blumen am Wiener Karmelitermarkt. Immer freitags und samstags. Donnerstagnacht fährt sie deshalb hinaus auf den Großmarkt in Inzersdorf.

Das meiste von Kundinnen gelernt

Bei ihrem allerersten Einkauf hier habe sie fast nur Rosen gekauft. Und Pfingstrosen - dabei wusste sie damals nicht einmal, wie die Blume mit den tennisballgroßen Blüten genannt wird. "Ich lerne einfach beim Tun", sagt Mwende Schwinn und lacht.

Das meiste über die Blumen, wie sie heißen und wie man sich am besten um sie kümmert, das habe sie von Kundinnen und Kunden gelernt. Geld verdiene sie mit dieser Arbeit bis heute nicht viel. Es reiche gerade zum Leben. "Aber was brauchen wir schon?" Beim Blumenverkaufen findet sie, was sie in ihrem Leben bis dahin schmerzlich vermisste.

Nach dem Studium arbeitete Mwende Schwinn als Projektmanagerin für eine Hilfsorganisation in Kenia. Dauerstress, Büroalltag, nebenbei Uni-Kurse im Ausland. Alles für die Karriere. Bis es zu viel war. Die junge Frau landet mit Depressionen im Spital. "Was tue ich mir da an?", fragte sie sich - und kündigte. Danach heuerte sie bei einer großen Airline als Flugbegleiterin an. Wieder eine andere Welt. Sie schlief in den schönsten Hotels, aß in den besten Restaurants und trug teure Parfums. Aber als sie das meiste Geld verdiente, sei sie am unglücklichsten gewesen.

"Obwohl ich so viel mit Menschen zu tun hatte, war ich nie wirklich in Kontakt", sagt Mwende Schwinn. Man schlafe, während alle anderen wach sind, und selbst andere Besatzungsmitglieder sehe man nach einem Flug meist nie wieder. Diese Zeit habe sie gelehrt, was sie im Leben wirklich schätzt.

In der Markthalle will niemand reden. Die Händler antworten nur knapp. Daran habe sie sich mittlerweile gewöhnt, sagt Mwende Schwinn und grinst. Aber dass jemand grantig ist, das verstehe sie nicht. "Wenn du Blumen verkaufst und nicht nett bist, was ist dann los mit dir? Blumen muntern dich doch auf." Schlechte Laune sei jedenfalls bei ihr immer verschwunden, wenn sie zwischen den Blumen steht.

Was sie spürt, zeigen auch Studien: Pflanzen in der Wohnung sorgen für ein gutes Raumklima. Sie sollen uns entspannen, produktiver und kreativer machen. Es heißt gar, dass wir schwierige Situationen besser meistern können, wenn wir dabei auf Pflanzen schauen. "Viele Menschen sind so weit weg vom Leben", sagt Mwende Schwinn. Da sei es lehrreich, sich um Blumen zu kümmern.

Ganz hinten in der Halle entdeckt Mwende Schwinn Tulpen, die ihr zartrote Blüten und hellgrüne Blätter entgegenstrecken. Und dann, einen Stand weiter, tatsächlich: Ranunkeln. Blassgelb, weiß, rosagesprenkelt. Wunderschön - und: zu teuer. Sie kauft stattdessen Märzenbecher. "So viel Geld, so wenig Blumen", sagt Mwende Schwinn. In den Sommermonaten fahre sie für dasselbe Geld oft mit doppelt so vielen Blumen wieder retour. Dann sind die Kisten prall gefüllt und sie muss sich Blumen noch unter den Arm klemmen.

Im Sommer kauft und verkauft Mwende Schwinn fast ausschließlich Blumen aus heimischer Produktion. Gut, dass viele ihrer Kundinnen und Kunde nachfragen, woher die Blumen kommen. "Aber die Menschen wollen Blumen auch außerhalb der Saison, und damit beginnen die Probleme." Rosen etwa sind das ganze Jahr über gefragt, werden aber nur von vier heimischen Gärtnereien ganzjährig produziert. Zum Valentinstag im Februar kommen die meisten Rosen - immer mehr davon auch fair produziert - deshalb aus dem fernen Ausland. Dass das fürs Klima nicht per se schlechter ist, sagt etwa der World Wide Fund for Nature (WWF): Rosen, die in Kenia gezüchtet werden, würden insgesamt weniger CO2-Emissionen verursachen als eine Glashaus-Rose aus Europa, heißt es.

Blumenanbau in Ländern, wo Menschen hungern

Mwende Schwinn, die selbst schon auf einer jener kenianischen Blumenfarmen war und um die Anbau- und Arbeitsbedingen dort weiß, schüttelt darüber den Kopf. Darüber hinaus sei es schon auch schwer zu begreifen, dass es in ihrem Heimatland Menschen gibt, die Hunger leiden, und gleichzeitig dort Blumen für das Ausland angebaut werden. Ja, es werde dauern, all die Fehler zu korrigieren.

Im Bus retour steigen bei jeder Station mehr Leute zu. Die Blumen beachtet kaum jemand. Während die Stadt erwacht, spürt Mwende Schwinn die Müdigkeit. Sie bastelt ein Posting für ihre Instagram Follower: "Morgen um 8 Uhr auf dem Karmelitermarkt", dazu ein Foto der eingekauften Blumen. Dann, kurz vor 5 Uhr, ist sie wieder zurück am Schottenring. Von dort zieht sie die Blumen nach Hause, trägt sie in den Keller, versorgt sie mit Wasser. Dann endlich schlafen, und ausruhen für den Tag am Markt.

Manchmal reizt der Gedanke an einen Berufswechsel

Tags darauf, am Karmelitermarkt stehen ein Müsliverkäufer, ein Wurststand - und Mwende Schwinn mit ihren Blumen. Sonst ist der Platz verlassen an diesem Freitag. Auch die Sonne will sich nicht zeigen. Heißer Tee aus der Thermoskanne und Songs einer kongolesischen Sängerin aus dem Bluetooth-Lautsprecher wärmen die Blumenverkäuferin. Bereits kurz vor 7 Uhr hat sie ihren Stand aufgebaut. Wie üblich, hat ihr Mann dabei geholfen, gießkannenweise Wasser geschleppt und Vasen gefüllt. Gegen Mittag schiebt sich auch die Sonne langsam über die Dächer.

Im heißen Sommer spannt sie einen großen Sonnenschirm schützend über die Blumen. Jetzt scheinen sich Tulpen, Märzenbecher und Hyazinthen, genauso wie die Verkäuferin, an den warmen Sonnenstrahlen zu laben. Die Jahreszeiten seien hier so viel spürbarer als in Kenia. Man wisse, wann Winter ist, wann der Frühling kommt. Draußen sein, mit Leuten reden, Menschen kennenlernen. "Dieser Job passt einfach in mein Leben", sagt Mwende Schwinn. "Und er nimmt nicht mein ganzes Leben ein."

Mit der Sonne kommen endlich auch die Kundinnen und Kunden. Es wird geplaudert, gescherzt, mal länger geredet. Sie habe viele Stammkunden, sagt Mwende Schwinn. Einer jener Kunden kommt immer freitags - und kauft meist viel. So auch heute. "I missed you the last weeks!", sagt der Mann, der schon von weitem grüßt. "Farmers don’t have flowers now", sagt die Verkäuferin. "I take the tulips! How much?" "81 Euro", sagt Mwende Schwinn und wickelt die Tulpen behutsam in Papier.

Kurz nach 15 Uhr sind die meisten Vasen leer und fast alle Blumen verkauft. Es kamen doch mehr Leute als erwartet. Auch die Tulpen haben sich gut verkauft. Leider sei das nicht immer so. Dann kommen die Zweifel, dann schreibt sie Bewerbungen. Doch wieder ein Bürojob? Ganz ehrlich, sagt Mwende Schwinn, sie überlege schon manchmal, das Geschäft mit den Blumen wieder aufzugeben. Aber immer dann würden ihr Stammkundinnen und -kunden Nachrichten schicken. Rose, bist du heute wieder am Markt? Hast du wieder so schöne Blumen für mich? Und dann steigt sie doch wieder in den Nachtbus und kommt doch wieder auf den Markt. Und mit ihr kommen die Blumen.