Der kreisrunde Turm auf dem Gelände des Alten AKH darf zweifellos zu den kuriosesten Bauwerken in der Geschichte Wiens gezählt werden. Infolge seiner speziellen Bauform hatte ihm der Volksmund schon bald nach der in der Regierungszeit Kaiser Josephs II. als "Tollhaus" für geistig abnorme Kranke im Jahr 1784 erfolgten Eröffnung den Spitznamen "Kaiser Josephs Gugelhupf" verpasst. Bis heute ist der Bau jedoch vor allem als "Narrenturm" bekannt.

Nachdem das darin befindliche "Pathologisch-anatomische Bundesmuseum" im Jahr 2012 in das Wiener Naturhistorische Museum eingegliedert und entsprechend neu aufgestellt worden war, erfolgte im September 2021, also mitten in der mit unliebsamen Einschränkungen verbundenen Corona-Pandemie, die Wiedereröffnung des Museums. Mittlerweile hat sich im "Narrenturm" alles wieder normalisiert und es kommen rund 20 Prozent mehr Besucher als vor der 2019/20 erfolgten Umgestaltung. Die Ausstellungarchitektur wie auch die auf den neuesten Stand gebrachte Präsentation der Objekte ist bestens umgesetzt und belässt den Räumlichkeiten des historischen Baus ihre besondere Aura.

In der im Erdgeschoß untergebrachten "Schausammlung" können Besucher nun eigenständig durch die ehemaligen "Tollhaus"-Zellen wandern, in denen sie in den jeweiligen Ausstellungskapiteln pathologische Besonderheiten besichtigen und reflektieren können. Für die in den oberen Stockwerken untergebrachte "Studiensammlung" ist eine Führung erforderlich. Beim überwiegenden Teil der ausgestellten Objekte handelt es sich nach wie vor um Unterrichtspräparate für Nachwuchsmediziner: sogenannte "Moulagen" in Form von Nachbildungen erkrankter menschlicher Körperteile und Organe sowie Skelettteile und in Formaldehydlösung aufbewahrte Organe, Gewebsteile und sonstige Besonderheiten. Völlig neu ist hingegen das – rundum gelungene – ausstellungsdidaktische Konzept. Dementsprechend finden sich jede Menge Schulklassen im Museum ein, die nach entsprechender Voranmeldung auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten eingelassen werden. Die Führungen in der Studiensammlung werden hauptsächlich von höhersemestrigen Medizinstudenten vorgenommen.

Laut Eduard Winter, der seit 2014 Kustos des Museums ist, kommen pro Woche rund 500 Schüler mit ihren Lehrern in den Narrenturm. Für die Zeit vor den großen Ferien werden – beruhend auf früheren Erfahrungen – sogar 2000 bis 3000 Personen wöchentlich aus schulischem Umfeld erwartet. Es handelt sich um Schulklassen aus allen möglichen Schulformen, vor allem aus Wien, aber auch aus dem Umfeld der Bundeshauptstadt. Ein professionelles Interesse haben Besucher aus Krankenpflegeschulen, insbesondere handle es sich dabei um die Pflegeschulen des AKH und des Wiener Wilhelminenspitals. Bei den anderen Schulklassen stehen laut Winter vorrangig zwei Themenkreise im Fokus: zum einen die Geschlechtskrankheiten und zum anderen die Raucherthematik samt den damit zusammenhängenden Folgen für den Organismus.

Gesichtsprothesen für Syphilitiker

Der im Museum gebotene Aufklärungsunterricht ist überaus anschaulich, sind doch die Geschlechtskrankheiten in allen möglichen Facetten visuell vorhanden. Wie ihm eine Lehrerin anvertraut habe, erspare sie sich durch den Besuch im Narrenturm in dieser Hinsicht mancherlei unangenehme unterrichtliche Gespräche, sagt Winter. Auf der einen Seite werden Jugendliche dafür sensibilisiert, dass im Hinblick auf Geschlechtskrankheiten Vorsicht geboten ist, auf der anderen Seite wird auch die historische Dimension beleuchtet. Beispielsweise veranschaulich die Moulage eines syphilitischen Gesichts, welche Auswirkungen Syphilis alias Lues im Tertiärstdium haben kann: Die Wucherungen überziehen weite Teile des Gesichts, auch die Augen- und Mundpartie ist schrecklich davon betroffen. Früher, als man der Krankheit medizinisch noch nichts entgegenzusetzen hatte, gehörten stark Betroffene zum Alltag, man konnte ihnen jederzeit auf der Straße begegnen. Wer als Syphilitiker Geld hatte, kaufte sich eine Gesichtsprothese, eine sogenannte "Epithese", um die von Lues verursachten Entstellungen abzumildern. Dieselbe Firma, von der die im Museum ausgestellten Moulagen stammen, namentlich jene von Karl Henning, stellte im 19. Jahrhundert Epithesen für Syphiliskranke her. Ein gegenständlicher Musterkoffer Hennings befindet sich in der Sammlung des Museums.

Eine ebenfalls im Museum vorhandene Gesichtsmoulage, die das tertiäre Stadium der Syphilis zeigt, veranschaulicht menschliches Elend, das man kaum für möglich halten würde. - © Johann Werfring
Eine ebenfalls im Museum vorhandene Gesichtsmoulage, die das tertiäre Stadium der Syphilis zeigt, veranschaulicht menschliches Elend, das man kaum für möglich halten würde. - © Johann Werfring

Theorien zur Ätiologie der Syphilis waren seinerzeit teils abenteuerlich. Der lange hartnäckig verbreitete Glaube, dass Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau Heilung brächte, mag in manchen Fällen für die Opfer verhängnisvoll gewesen sein. Jahrhundertelang war man dieser heimtückischen Krankheit hilflos ausgeliefert. Auf alle Fälle ist das Thema für die Ausleuchtung der Alltags- und Medizingeschichte in der unterrichtlichen Nachbereitung ergiebig, aber auch anspruchsvoll, und es bedarf dafür engagierter Lehrkräfte.

Ein im Zusammenhang mit dem Liebesspiel vorhandenes Kuriosum ist ein in einer Vitrine gezeigtes 25 Zentimeter langes geschnitztes Holzstück, das einst operativ aus dem Enddarm eines Schusters entfernt werden musste. Dies als Illustration für Liebesspielzeug-Unfälle, die sich auch heute noch in großer Variationsbreite ereignen.

Stammkunden des Museums

"Nicht wenige Lehrer sind im Museum bereits Stammkundschaften", sagt Winter. Mitunter sei zu beobachten, wie Jugendliche mittels sozialer Lernformen, etwa Gruppenarbeiten, vorgehen oder bei ihren musealen Erkundungen bereits vorbereitete Fragebögen ausfüllen. Eine der ehemaligen "Tollhaus"-Zellen der Schausammlung im Erdgeschoß ist dem Thema Lungenerkrankungen gewidmet. Es ist unter den historischen Exponaten zwar keine "Raucherlunge" vorhanden, jedoch gibt es etliche historische Präparate, die einer solchen sehr nahe kommen. In verschiedener Tönung, von leicht geschwärzt bis extrem dunkelschwarz, sind in den einzelnen Vitrinen Lungen ausgestellt, anhand derer das Fortschreiten des Krankheitsbildes eines Lungenleidens, wie es auch bei Rauchern vorkommen kann, nachvollziehbar ist. Freilich wäre didaktisch die direkte Gegenüberstellung einer völlig gesunden zartrosafarbenen Lunge mit einer authentischen Raucherlunge noch nützlicher, aber an solche Exponate für Museumszwecke sei heutzutage nur schwer heranzukommen, so Winter.

Im Museum gibt es etliche historische Exponate, deren Schwärzung dem Erscheinungsbild einer Raucherlunge sehr nahe kommt. Hier das Präparat eines chronischen Emphysems mit Bronchitis. 
- © Johann Werfring

Im Museum gibt es etliche historische Exponate, deren Schwärzung dem Erscheinungsbild einer Raucherlunge sehr nahe kommt. Hier das Präparat eines chronischen Emphysems mit Bronchitis.

- © Johann Werfring

"Mit dem Großteil der Schüler kann man gut arbeiten", sagt Winter. Freilich seien immer wieder auch solche darunter, die angesichts von ungewöhnlichen oder teils schockierenden Krankheitsbildern in unangemessener Weise "lustig" sind. "Besonders pubertierende Burschen tun sich diesbezüglich hervor und übertrumpfen einander mit gedankenlosem Gerede", so Winter. Es gelte, diese zuweilen ein wenig einzubremsen. Ein kleiner Teil der Schüler sei emotional sehr berührt, vereinzelt fließen angesichts des bis dahin nicht für möglich gehaltenen menschlichen Elends auch Tränen. Freilich sei das speziell auch dann der Fall, wenn jemand Visualisierungen von Krankheiten imaginierend auf sich selber bezieht. Es sei dann vonnöten, von Seiten des Führungspersonals abseits der Klasse persönlich in Einzelgesprächen auf diese einzugehen. Die Allermeisten fänden sich danach beruhigt wieder in der Gruppe ein und nähmen am weiteren Rundgang teil, so Winter.

An der elektropathologischen Sammlung des Hauses sind vor allem HTL-Klassen und Elektriker-Lehrlinge von der Berufsschule Mollardgasse interessiert. "Vom TGM, von den verschiedenen HTL-Schulen und von der Berufsschule kenne ich die Lehrer schon gut", sagt Eduard Winter, manche von ihnen kämen bereits seit 20 Jahren mit ihren Schulklassen ins Museum. "Diese Lehrer wollen die Schüler absichtlich mit dem Museumsbesuch schockieren", so Winter. Aus didaktischen Gründen nämlich, denn sie sollen den Respekt vor dem Strom ihr ganzes Berufsleben lang nicht verlieren.

In der im 1. Stock befindlichen Studiensammlung beginnt die Führung jeweils vor einer Holztafel mit einer besonderen Aufschrift: "Hic locus est, ubi mors gaudet, succurrere vitae!" (Hier ist der Ort, wo sich der Tod freut, dem Leben zu helfen!). Dieser Spruch, der dem italienischen Arzt und Anatomen Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) zugeschrieben wird, steht über den Pforten vieler anatomischer Institute und bezieht sich auf das Erfordernis der Beforschung von menschlichen Leichen und Leichenteilen, um erfolgreich gegen diverse Krankheiten ankämpfen zu können. In der österreichischen Bundeshauptstadt ist er auch als Aufschrift im Kleinen Hörsaal des Instituts fur Anatomie der Universität Wien an der Währinger Straße 13 zu finden. Im "Narrenturm" verweist er freilich auch auf die zahlreich vorhandenen Moulagen, welche tödlich verlaufende Krankheiten zeigen.

Die größtmöglichen Lügen

Noch bis Ende April ist die aktuelle Sonderausstellung des Museums zu sehen, in der rezente Seuchen wie Corona, aber auch diverse ansteckende Krankheiten der Vergangenheit thematisiert sind. In Wien zählte neben Pest unter anderem Lepra zu den am meisten gefürchteten infektiösen Krankheiten. Gleich mehrere Moulagen mit Krankheitszeichen der Lepra finden sich im "Narrenturm". Eine im Museum gezeigte Rassel veranschaulicht, wie Lepröse einst bei Annäherung von Gesunden ein akustisches Zeichen geben mussten, damit jene rechtzeitig ausweichen konnten. Auf dem Plan der Stadt Wien von Niklas Meldemann, der die Erste Türkenbelagerung Wiens im Jahr 1529 zeigt, ist vor dem Schottentor ein als "siech heusle" bezeichnetes, in Flammen stehendes Leprahaus zu sehen. Berichte über Ansteckungsträger, die beim Anrücken der Osmanen in ihren vor den Stadtmauern befindlichen Behausungen belassen wurden, überliefern schreckliche Gräueltaten an ihnen. Waren sie Kriegspropaganda, um den Feind möglichst blutrünstig erscheinen zu lassen oder wahre Überlieferung? Womöglich muss auch unter dem Eindruck solcher Nachrichten gelten, was ein gewisser Jemand über die größtmögliche Kumulation von Unehrlichkeiten vermeldete: Demnach werde nie so viel gelogen wie vor einer Wahl, während eines Krieges und nach einer Jagd.

Print-Artikel erschienen am 4. März 2023
In: "Wiener Zeitung", S. 18–19