Ein Montagmorgen bei einer Wiener Familie. Leere Schalen mit Müsli stehen auf dem Esstisch. Im Hintergrund spielt das Radio. Während sich die Erwachsenen auf das Verlassen der Wohnung vorbereiten, klagt Emil plötzlich über starke Bauch- und Kopfschmerzen. Als ihn seine Mutter darauf anspricht, beginnt 12-Jährige laut zu schluchzen und zu toben. "Ich will heute nicht in die Schule gehen", schreit er. Er ist aber nicht der Einzige, der Schule verweigert - immer mehr Schülerinnen und Schüler bleiben daheim - und das aus unterschiedlichen Gründen.

Emils Mutter klingt verzweifelt. Dass ihr Sohn heute daheim bleibe, sei nicht das erste Mal. Die Gründe bestehen bei ihm aus einer Mischung aus Desinteresse am Unterricht und auch an den Lehrern, die "einfach zu viel verlangen sowie Tests- und Schularbeitstermine untereinander nicht abstimmen können", erzählt sie.

Annika Hofer unterrichtet Kinder mit Schulangst. - © Erben
Annika Hofer unterrichtet Kinder mit Schulangst. - © Erben

"Einmal haben wir ihn sogar bis zum Schultor gebracht und mussten mit ihm wieder umkehren." In einigen Fächern habe er auch Lehrkräfte, die er nicht leiden kann oder ihn demotivieren. So will er an den jeweiligen Tagen immer daheimbleiben, nicht nur um ihnen "aus dem Weg zu gehen", sondern auch dem Leistungsdruck etwas zu entkommen, so die 43-Jährige zur "Wiener Zeitung".

Größtmögliche Unterstützung

Daniel Landau, Bildungsaktivist und ehemaliger Lehrer: "Viele Kinder macht die Schule nicht krank, sondern gesund." - © Erben
Daniel Landau, Bildungsaktivist und ehemaliger Lehrer: "Viele Kinder macht die Schule nicht krank, sondern gesund." - © Erben

Schulverweigerung und Schulangst sind eng miteinander verwandt. Schulangst sei für Anna Maria Mangelberger, Psychotherapeutin in Wien, die Kinder und Jugendliche in ihrer Praxis in Wien-Liesing betreut, kein Phänomen, das sich über Jahre ziehen kann, sondern lasse sich an bestimmten Faktoren festmachen. "Am Anfang beginnt es oft mit einer Krankmeldung, da der Schüler über verschiedene Symptome klagt", sagt sie im Gespräch. "Aus einzelnen Tagen können aber Wochen oder Monate werden." Die Krankmeldungen von Schülern nehmen besonders seit der Pandemie zu, bestätigt eine Hausärztin in einem Außenbezirk von Wien, die namentlich nicht genannt werden möchte. Allein in ihrer Ordination seien es derzeit einige Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern jede Woche aus verschiedenen Gründen krankmelden.

Größtmögliche Unterstützung

Für Anna Maria Mangelberger, Psychotherapeutin in Wien, sind Panikattacken, Herzrasen und Bauchschmerzen erkennbare Symptome der Schulangst. - © Erben
Für Anna Maria Mangelberger, Psychotherapeutin in Wien, sind Panikattacken, Herzrasen und Bauchschmerzen erkennbare Symptome der Schulangst. - © Erben

Die meisten hätten aber Schulangst und blieben deswegen daheim. "Es werde alles unternommen, damit Kinder und Jugendliche gern in die Schule gehen", heißt es von der Wiener Bildungsdirektion. Dafür werde am jeweiligen Schulstandort die größtmögliche Unterstützung geboten. Dazu zählen wie gemeinsame Gespräche unter Einbindung der Schulpsychologie, Helferkonferenzen und ähnliches. Gründe für die Schulangst könne die Bildungsdirektion jedoch nicht nennen.

Panikattacken, Herzrasen und Bauchschmerzen - die Symptome der Schulangst seien vielfältig und mache sich bei vielen bemerkbar. Die wenigsten bleiben aber deswegen Zuhause. "Schulangst ist kein anerkannter Krankheitsgrund", weiß Anna Maria Mangelberger, die ihren jungen Klientinnen und Klienten sagt, dass sich im Unterricht auf die Schuhe der Lehrerin konzentrieren sollen, um sich abzulenken und den Fokus auf das Außen zu legen", erzählt die Psychotherapeutin im Gespräch. Hilfsobjekte wie Zuckerln oder Schokolade können ihnen Sicherheit geben und sie dabei unterstützen, handlungsfähig zu bleiben. Unangenehme Gefühle können sie damit überwinden beziehungsweise sich davon besser distanzieren. Keinesfalls dürfen die Schülerinnen und Schüler mit ihren Ängsten und Sorgen alleine gelassen werden, sondern müssen sich Unterstützung holen - "nicht nur von den Eltern, sondern auch in der Schule", wie Mangelberger betont.

"Das können zum Beispiel Lehrerinnen oder Lehrer sein, denen die Kinder vertrauen und denen sie sich auch anvertrauen können." Introvertierte Kinder neigen gehäuft an Schulangst, beobachtet Anna Maria Mangelberger, da extrovertierte Kinder eher in die Aggression und Abwehrhaltung gehen. "Werden sie von Mitschülern oder Lehrern schikaniert, wählen introvertiertere Kinder eher den Weg des Rückzugs."

Wenn der Druck steigt

"Wir vergessen, dass junge Menschen zwar an ihren Smartphones hängen, jedoch keine leistungsoptimierten Cyborgs sind", sagt Annika Hofer, die Schüler aller Altersklassen unterrichtet, welche die Schule aus psychischen Gründen nicht besuchen können. Allein seit der Pandemie hat sich die Zahl der Schulabmeldungen verdreifacht, rechnet Annika Hofer vor, die diese Entwicklung auf das Schulsystem zurückführt, das immer weniger Freiraum erlaube. Sie leiste daher nicht nur Re-Integrationsarbeit, sondern unterstütze und ermutige Eltern im Umgang mit stressigen Situationen. "Ich hatte schon Kinder, die bereits nach wenigen Wochen die Schule wieder besuchen konnten."

Hofer sieht vor allem einen enormen Lern- und Leistungsdruck, der viele mehr denn je überfordern und resignieren lasse. Verstärkt werde die Situation dadurch, dass einzig die Noten das Maß aller Dinge sind und über Erfolg oder Misserfolg eines Schülers entscheiden. Ohne Nachhilfe würden es nur noch die wenigsten schaffen, bei dem Leistungsdruck mitzuhalten, so die Mentaltrainerin und Pädagogin im Gespräch. "Schüler sowie Lehrer müssen unrealistisch perfekt funktionieren."

"Erfolgsmomente fehlen"

"Viele Kinder macht die Schule jedoch nicht krank, sondern gesund", meint hingegen Daniel Landau, Bildungsaktivist, ehemaliger Lehrer und aktuell österreichweit zuständiger Bildungskoordinator für Ukrainische Kinder und Jugendliche. Schule sei für ihn auch ein sozialer Ort, wo Gemeinschaft passiert und gelebt wird, was sich während der Corona-Pandemie bestätigte.

Vor allem für jene, die weder unterstützende Eltern noch ein bildungsaffines Umfeld haben, sei die Schule enorm wichtig. Für Daniel Landau bräuchten Schüler heute aber verstärkt und mehr "Erfolgsmomente", sollen auf Erreichtes und Gelerntes stolz sein können. Selbstmotivation müssten die Lehrer den Schülern vermitteln. Das setze für ihn aber auch motivierte Lehrer voraus, wovon es wohl auch mehr als genug gebe, sagt Landau, um die Schüler auch aufzubauen. Sorgen bereitet ihm jedoch der Umstand, dass zu viele ausbrennen. Etwa durch zu wenig Unterstützung für die zu vielen Aufgaben, aktuell auch mit verursacht durch den brennenden Mangel an Pädagogen. Gespart werde dann an Fächern wie Bewegung, Zeichen und Musik, die für die "Menschwerdung" von Kindern, für den Erwerb sozialer und emotionaler Kompetenzen, aber ganz besonders wichtig seien, sagt Landau.

Wettlauf nach Pisa

Doch nicht mehr nur die Schüler, sondern auch Lehrer resignieren und kehren der Schule den Rücken - und das für immer. "Wir erfassen nicht, warum ein Pädagoge oder eine Pädagogin die Schule verlässt", heißt es dazu aus der Bildungsdirektion Wien. "Zwischen August des Vorjahrs und Jänner 2023 stehen 151 einvernehmlichen Auflösungen des Dienstverhältnisses, Kündigungen oder Pensionierungen mehr als 1.900 Neuanstellungen gegenüber. Insgesamt unterrichten rund 29.500 Pädagoginnen und Pädagogen in Wiener Klassenzimmern."

Für Annika Hofer liegen seit der Einführung der Zentralmatura bei vielen Lehrern die Nerven blank, da die gesetzten Ziele unter Druck mit ihren Schülern erreicht werden müssen. Homogene Bildungsziele für heterogene Klassen, können nach Hofer, keinen Dauerzustand der Einrichtung Schule darstellen. Das "System Schule" müsse deswegen im Interesse aller vollkommen neu gedacht und aufgesetzt werden.

Überholte Standards seien derzeit das Maß aller Dinge, obwohl andere Kompetenzen und Fähigkeiten dort vermittelt werden müssten, um die SchülerInnen auf die Arbeitswelt besser vorzubereiten. "Wir versuchen uns international mit Pisa-Ergebnissen zu profilieren", sagt sie, die Schüler in Mödling privat unterrichtet. "Dabei vergessen wir aber, dass es heute um viel mehr geht, als auswendig-gelerntes Wissen zu vermitteln."

Frust statt Motivation

Emil trinkt einen Schluck von seinem Kakao und blättert wild im Mathe-Hausübungsheft. Kommende Woche müsse er wieder in die Schule gehen, seufzt er resigniert - "um die Schularbeit nicht zu versäumen", erklärt er, da er sonst negativ beurteilt werde. Über WhatsApp halten ihn indessen seine Klassenkolleginnen und -kollegen am Laufenden. Schule könne etwas "unglaublich Tolles" sein, was aber oft nicht der Fall sei, da lösungsorientiertes Denken im Schulbereich kaum vorhanden sei, stellt Anna Maria Mangelberger fest. "Auch Emil würde die Freude und den Spaß an der Schule rasch wieder finden, wenn es so wäre. Aber nicht nur er."