Sie ist der Sekundenzeiger der österreichischen Geschichte: Die "Wiener Zeitung" begleitet seit ihrer Gründung 1703 das Schicksal unseres Landes. Wird die gedruckte Tageszeitung, wie geplant, Ende Juni eingestellt, stirbt eine fast 320-jährige Tradition. Am Schluss dieses Zeitungslebens angelangt, wollen wir in den nächsten Wochen auf einige Kapitel der facettenreichen Vergangenheit des Blattes zurückblicken.

An der Ecke Brandstätte/

Wildpretmarkt steht heute statt des "Rothen Igel" ein Wohnhaus. - © Archiv
An der Ecke Brandstätte/
Wildpretmarkt steht heute statt des "Rothen Igel" ein Wohnhaus. - © Archiv

Was sind 320 Jahre? Aus archivalischer Sicht endlose Regalmeter, gefüllt mit alten Bänden, manche kleinformatig wie Taschenbücher, andere groß (und fast so schwer) wie ein Kaffeehaustisch. Wir werden da und dort einen Band herausziehen, hineinblättern, lesen. Und dabei den Sekundenzeiger ticken hören. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.

Prinz Eugen mit einer Ausgabe unseres Blattes. Nicht nur dank der Kriegsberichterstattung waren "Diarium"-Leser über den Feldherrn bestens informiert. Bilder: Rijksmuseum, "WZ"-Archiv. Montage: Ph. Angelov / "WZ"
Prinz Eugen mit einer Ausgabe unseres Blattes. Nicht nur dank der Kriegsberichterstattung waren "Diarium"-Leser über den Feldherrn bestens informiert. Bilder: Rijksmuseum, "WZ"-Archiv. Montage: Ph. Angelov / "WZ"

Damit zum Anfang unserer Geschichte: Hochsommer 1703 in der Donaumetropole. Nicht weit vom Stephansdom entfernt laufen in der Druckerei des Johann Baptist Schönwetter (1671 bis 1741) die Vorbereitungen auf Hochtouren. Am 8. August erscheint die allererste Ausgabe eines neuen Blattes, das den Titel "Wiennerisches Diarium" trägt. Die Umbenennung in "Wiener Zeitung" sollte erst 1780 erfolgen.

Was bot man den Leserinnen und Lesern? "Alles Denckwürdige / so von Tag zu Tag", sowohl aus Wien als auch "auß der gantzen Welt" - so lautete die Ankündigung in der ersten Nummer. Anfangs waren es regulär acht dichtbedruckte Seiten im handlichen Format 16 mal 20 Zentimeter. Stoff gab es im frühen 18. Jahrhundert in Hülle und Fülle. Das Habsburgerreich befand sich mitten im Krieg. Von den Schlachtfeldern, auf denen kaiserliche Truppen um den Stellenwert der Monarchie in Europa kämpften, trafen laufend Depeschen in Wien ein.

Die Frau des Fischselchers

Eine besondere Rolle spielte ein Feldherr, der neben dem Kaiser - 1703 regierte Leopold I., ab 1705 sein Sohn Joseph I. - im Staat den Ton angab: Prinz Eugen von Savoyen (1663 bis 1736). Er hatte entscheidende Fäden in der Hand. Als am 13. August 1704 mit der Schlacht bei Höchstädt Eugens Siegeszug im Spanischen Erbfolgekrieg begann, brachte das "Diarium" eigens mehrseitige "Relationen", die "umbständlich", also ausführlich, berichteten.

Doch auch die kleineren Rubriken hatten viel zu bieten. Mit dem Privileg, eine Zeitung herauszugeben, hatte sich Schönwetter spezielle Exklusivrechte gesichert. So durfte er eine Liste der in und um Wien Verstorbenen drucken. Zwei Beispiele (in der damals üblichen Schreibweise): Am 3. Mai 1710 starb "Dem Wilibald Ludwig / Fischselcher (selchen = räuchern, Anm.)/ zu Erdberg / sein Weib Barbara / alt 67. J." Und am nächsten Tag "Der Susanna Rößlin / armen Wittib / in der Leopoldstadt / ihr Kind Joseph / alt 8. Jahr." Hier wurden also nicht nur hohe Herrschaften verewigt, sondern auch einfache Leute, bis hin zu den Armen. Und von denen gab es damals viele.

Neben der Totenliste sorgte Schönwetter mit einem weiteren Verzeichnis für Aufsehen: Eine Aufstellung prominenter Ankommender und Abreisender, die wohl als Klatschrubrik fungierte. Aber nicht nur. So registrierte man für den 15. April 1705: "Ein Currier / kombt auß Piemont / geht gleich zum Printz Eugeni."

Dass der Kurier aus dem norditalienischen Kriegsschauplatz sofort zum Savoyer eilt, lässt auf Dringliches schließen. Weiter unten auf der Seite geht es weiter. Am 17. April reisten ab: "Printz Eugenius" samt zwei hohen Militärs. Und wohin? Natürlich "nach Italien". So gelang es der Redaktion zuweilen, brisante Informationen in scheinbar unbedeutende Notizen zu packen.

Dem Publikum trotz strengster Zensur fesselnde Lektüre zu liefern - das war damals wohl der Kern des Zeitungsgeschäftes. Leserinnen und Leser von einst hatten ein feines Sensorium für das, was zwischen den Zeilen stand.

Ein Brüller anno 1705

Unterhaltung gehörte freilich auch dazu. Am 29. August 1705 las man, in Frankreich werde behauptet, die habsburgischen Truppen hätten in Italien eine Niederlage eingesteckt. Doch "was das Beste seye", setzte das "Diarium" genüsslich nach: Dass nämlich der quicklebendige "Printz Eugenius (...) getödtet worden" sei. Darüber lachte wohl halb Wien.

Welche Köpfe steckten eigentlich hinter dem "Diarium"? Über die Frühzeit ist wenig bekannt. Neben Setzern und Druckern dürfte anfangs Schönwetter selbst als Blattmacher tätig gewesen sein. Die Redaktionsarbeit bestand in erster Linie daraus, eingehende Nachrichten zu sammeln, zu übersetzen und auszuwählen. Dabei war Fingerspitzengefühl gefragt. Was würde die Zensur gerade noch durchgehen lassen, was war tabu?

Da auswärtige Post nur zweimal wöchentlich in der Donau-Metropole eintraf, erschien die Zeitung auch in diesem Rhythmus, nämlich mittwochs und samstags.

Schönwetters Ära endete 1721, als er das kaiserliche Privilegium zum Druck der Zeitung verlor. Er hatte sich geweigert, eine neue Abgabe zu zahlen. Also übernahm der Buchdrucker Johann Peter van Ghelen (1673 bis 1754) das "Diarium". Aus dieser Zeit ist auch der erste Name eines Redakteurs, damals "Zeitung-Schreiber" genannt, überliefert: Hieronymus Gmainer (ca. 1663 bis 1729). Er trug viel dazu bei, dass unser Blatt schon bald seine erste Blüte erlebte.

Nächste Folge: Samstag, 13. Mai

Eine Serie von

Andrea Reisner und Paul Vécsei