Wien. Palmen soll es geben. Große. Überall. So wie in San Remo, jener italienischen Küstenstadt an der Riviera. Kurz verliert sich der Blick der Mittsechzigerin in der Ferne, während sie in der Neubaugasse hilflos nach dem 13A-Bus Ausschau hält. Palmen. Das ist ihre Vision von der Mariahilfer Straße. So soll sie mal aussehen. Wie ihr Urlaubsparadies.
Ein jeder hat eine Utopie. Für sich, die Gesellschaft und für die Straße, auf die er flanieren möchte. Für manche ist es die Palmenpromenade in einer kleinen Kur-Stadt in Italien, oder die noble Allee, an deren Auslagen sie immer mit offenem Mund vorbeigingen, wohlwissend, dass die schmallippige Verkäuferin ihnen nie das edle Tee-Service zeigen wird - und trotzdem. Aus einem unergründlichen Masochismus beschwören sie diese Einkaufsmeile immer wieder als Wunschort herauf. Für andere ist es die Straße ihrer Kindheit, auf der sie aufgewachsen sind, die sie kennen, wo sie wissen, wo der Trafikant ist, der ihre Zigarettenmarke kennt, und das grelle Café, in dem sie einander jeden Vormittag bei der ersten Energy-Ladung Taurin die Abenteuer vom Vorabend erzählen. "Wie die Favoritenstraße am Reumannplatz soll es aussehen", sagt David. Der 18-jährige Lagerlogistiklehrling spaziert mit seinen drei Kollegen auf der Mariahilfer Straße. Es ist 10 Uhr, Zeit für die erste Arbeitspause. Wie würde die Straße aussehen, wenn er freie Hand hätte? Irritiert schaut er um sich. Hinter ihm ein Unterwäsche-Geschäft. Vor ihm die leere Straße, ihm gegenüber die Mariahilfer Kirche im Nebel. "Die Favoritenstraße, da ist es gut", resümiert er. Die Kollegen nicken beipflichtend.
Wo der Städter wieder zum Menschen wird
Für sie ist der Sehnsuchtsort ganz nah. Für andere liegt er ferner. Wenn sie freie Hand hätten, denken sie nicht an Favoriten, die Kärntner Straße in der Innenstadt oder Salzburgs Getreidegasse in der Altstadt. Sie träumen größer, breiter, grüner und vor allem globaler. Sie denken an Amsterdam, New York oder Barcelona. So wie Julia Zerzer. Versunken sieht sich die 42-jährige Lokalbesitzerin diesen Vormittag scharfe Messer in der Auslage eines Fachgeschäfts an. Grüner soll es werden auf der Mariahilfer Straße, mit Spielplätzen für Kinder und vielen Gastgärten. "Ich denke dabei an La Rambla in Barcelona", erzählt sie von ihrer Vision. 1258 Meter misst die Promenade in Barcelona, die sich von der Placa de Catalunya bis zum Hafen erstreckt. Eingebettet von Bäumen kann man hier flanieren, seinen Kaffee trinken und sich von Straßenkünstlern bespielen lassen. Und dabei ist es laut, belebt und chaotisch. Das Einkaufen ist hier Nebensache. Der Städter ist nicht länger Konsument, sondern wieder Mensch mit Bedürfnissen, Träumen und einem Lebensgefühl, das auch in der Nebelsuppe Wien Realität werden kann. Zumindest wollen viele Wiener daran glauben. Vielleicht lässt sie sich mit ein paar Sitzbänken, Bäumen, Foodtrucks und Straßencafés doch verwirklichen, die mediterrane Utopie von der Einkaufsstraße, inklusive Palmen.