Wien. "Wir müssen uns jetzt aussuchen, ob wir uns den rechten oder den linken kleinen Finger abschneiden", sagt der stellvertretende Direktor Rainer Bernhard. Es ist ein geschäftiger Morgen an der Handelsakademie (HAK) in Margareten: Prüfungen stehen an, Bewerber für das kommende Schuljahr warten auf persönliche Gespräche mit Lehrern. Trotzdem haben sich zahlreiche Schüler, Lehrer und die Schulleitung Zeit genommen, der "Wiener Zeitung" zu berichten, mit welchen Problemen sie schon jetzt täglich zu kämpfen haben und welche Schwierigkeiten noch auf sie zukommen werden, wenn die geplanten Kürzungen auch ihre Schule treffen.
Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek wird nach den Vorgaben des Finanzministeriums schon 2014 insgesamt 87 Millionen einsparen müssen, im Jahr 2015 drohen gar Einschnitte in Höhe von 90 Millionen. Diese Summen werden nun nicht, wie zuvor angekündet durch größere Schulklassen erreicht, sondern durch ein Zurückrudern im geplanten Ausbau der Ganztagsschulen.
"Einschnitte sollen vor allem Verwaltung treffen"

In einem Brief wandten sich einige Lehrer der mit 1400 Schülern größten berufsbildenden Schule an die Öffentlichkeit. Von "Rasenmäher-Sparplänen des Finanzministers" ist die Rede und davon, wie enttäuscht sie von der Bildungsministerin seien. Gerade sozial benachteiligten Schülern werden Chancen genommen, dabei wisse man doch seit langem, dass sich jeder in die Bildung investierte Euro später wirtschaftlich rechne. Man werde jetzt erst einmal mit den einzelnen Ländern verhandeln, gerade, was die Einsparziele für 2015 betreffe, heißt es dazu auf Nachfrage der "Wiener Zeitung" aus dem Bildungsministerium. Die Einschnitte sollen vor allem die Verwaltung betreffen, möglichst geringe Auswirkungen für Schulen und Klassen seien prioritär, hieß es weiter.
Enttäuscht waren die Lehrer auch von jenen Teilen der Lehrergewerkschaft, die es begrüßen, dass sich der Ausbau der Ganztagsschule nun doch verzögert. Man werde lediglich jene für die Ganztagsschule gedachten 50 Millionen Euro, die von den Ländern nicht "abgeholt" wurden, als Teil der Sparmaßnahme zurückbehalten, so das Ministerium.
Lehrer als auch Schüler der HAK sprechen sich hingegen sehr deutlich für die Ganztagsschule aus. "Als meine Eltern entschieden haben, dass ich die Ganztagsschule besuchen soll, war ich total dagegen. Sie arbeiten beide Vollzeit, die Alternative wäre für mich der Hort gewesen. Mittlerweile danke ich meinen Eltern dafür. Ich bin in Deutsch viel besser geworden. Außerdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, selbst irgendwo Kunstkurse zu besuchen, aber durch die Zusatzangebote am Nachmittag kann ich mich kreativ entfalten, statt nur auswendig zu lernen, wie früher in der KMS (Kooperative Mittelschule, Anm.)", erzählt die Schülerin Dragana Putnik.
Ganztagsschule, eine Frage des Prestiges?
"Uns geht es darum, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen", sagt Karl Pleyl, Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer. "Ganztagsschulen sind vor allem für Alleinerziehende wichtig oder für Familien, in denen beide Eltern arbeiten, und generell für alle, die ihren Kindern Nachhilfe oder andere teure Angebote nicht bieten können." Besser situierte Eltern hätten tendenziell weniger Interesse an Ganztagsschulen, weil sie die Nachmittage ihrer Kinder lieber selbst gestalten möchten. "Und sie haben möglicherweise die besseren Lobbys." Einer seiner Schüler, Petar Ljubic, sagt dazu: "Meine Mutter würde nie auf die Straße gehen und für die Ganztagsschule demonstrieren. Sie hat selbst keine gute Ausbildung. Schule ist für sie Schule." Eine Kollegin nickt: "Unsere Eltern können uns nicht helfen." Die Lehrer umso mehr. Pleyl ist überzeugt: "Wir sehen hier täglich die positiven Auswirkungen. Die Schüler haben bessere Noten, der Zusammenhalt und die Identifikation mit der Schule sind viel stärker als bei Halbtagsschulen."
Besseres Deutsch in der Gemeinschaft
"Man fühlt sich endlich einmal als Teil einer Gemeinschaft", bestätigt Anna Bogosavljevic, die vor zehn Jahren mit ihrer Familie aus Serbien nach Wien kam. Sie ist sich sicher, dass sie nur dank der Ganztagsschule heute perfekt Deutsch spricht: "Als ich nur sechs Stunden in der Schule war, habe ich halt auch nur sechs Stunden am Tag Deutsch gesprochen. Nachmittags und am Wochenende habe ich mich nur auf Serbisch unterhalten. So wird man nicht besser in Deutsch, man verlernt es sogar wieder. Ohne die Ganztagsschule hätte ich keine Chance gehabt." Vor allem die Deutsch-Matura ihrer Schüler habe sich sichtbar verbessert", bestätigt Peter Preisinger, der an der Schule Deutsch und Geschichte unterrichtet.
Einzige Handelsakademie, die Ganztagsschule anbietet
"Wir sind die einzige Handelsakademie, die eine Ganztagsschule anbietet. Gerade für den Wiener Raum ist das unglaublich wichtig. Alles, was von den Schülern gefordert wird, möchten wir ihnen auch anbieten können. Vor allem Zusammengehörigkeit und Identifikation mit der Schule", meint die Direktorin Helga Wallner. "Wir sind stolz auf unsere Schüler", sagt sie und man glaubt es ihr. "Es ist ein zynisches Spiel", findet Verena Pejic, Lehrerin für Politische Bildung und Zeitgeschichte. "Von der Wirtschaft werden Soft Skills verlangt. Doch wie mühsam es ist, diese zu vermitteln, wie viele Stunden, Wochen und Jahre es dauert, das sieht keiner. Es braucht viel Engagement, Zeit und vor allem Geld." Geld, das immer weniger wird.
"Große Klassen machen auch große Probleme"
Die geplanten Kürzungen werden die betreuten Hausaufgabenstunden am Nachmittag treffen, das ist bereits fix. Statt zuvor 15 Schüler werden sich ab Herbst bis zu 33 Schüler einen Lehrer teilen müssen. Das sei besonders fatal, sind sich Schüler und Lehrer einig. Denn gerade bei den "Lernstunden" sei die individuelle Betreuung enorm wichtig. So machen türkischsprachige Schüler andere Fehler als jene, die beispielsweise Serbokroatisch sprechen. "Ich habe schon in verschieden großen Klassen gesessen, von nur acht bis hin zu 33 Schülern. In großen Klassen ist es schwer mitzuarbeiten. Dafür sind die Niveaus, Vorstellungen und Wortschätze viel zu unterschiedlich. Nur lautere Schüler werden gehört, schüchterne gehen in der Masse unter. Und wenn du hinten sitzt, hast du überhaupt Pech", berichtet die engagierte Schülerin Mona Azz. Sie selbst lebt in einer Großfamilie mit vier Geschwistern, da ist Nachhilfe durch die Eltern nicht drin.
"In Österreich wird Bildung vererbt"
Von Pädagogik-Experten werde immer wieder gefordert, die Schüler in ihrer Individualisierung und Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. "Wie sollst du das mit über 30 Schülern machen?", fragt Peter Preisinger. "In Österreich wird Bildung vererbt. Unser Ziel ist, den Jugendlichen eine bessere Ausbildung zu bieten als jene ihrer Eltern. Teure Nachhilfe können sich unsere Schüler meist nicht leisten. Und viele Eltern können ihren Kindern auch nicht weiterhelfen, weil sie oft auch kein perfektes Deutsch beherrschen", sagt der ausgebildete Theaterpädagoge weiter, der zuletzt ein Theaterprojekt organisierte, das von Schülern selbst geschrieben und kürzlich mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Manche Eltern habe er erst überreden müssen, ihre Kinder überhaupt teilnehmen zu lassen.
Sprachtrainings werden von 20 auf vier Stunden reduziert
Doch nicht nur an den sogenannten Lernstunden am Nachmittag soll gespart werden. Sprachtrainings werden von 20 Stunden auf vier Stunden reduziert; bisher kostenlose, vorbereitende Kurse für Deutsch- oder Englisch-Zertifikate werden nicht mehr für alle Schüler drin sein. Auch einige Freigegenstände müssen weichen. "Ich verstehe nicht, warum man uns die Ressourcen kappt. Das Bildungsministerium verspricht beste Bildung und kürzt drastisch. Das ist wie bei einer Pflanze. Aus ihr kann kein Baum werden, wenn man sie nicht gießt", sagt Mona Azz.