Die Flächen unterhalb der Tangente werden oftmals als Abstellplatz für Autos, Baumaterialien oder Gerümpel genutzt. ... - © Vasari
Die Flächen unterhalb der Tangente werden oftmals als Abstellplatz für Autos, Baumaterialien oder Gerümpel genutzt. ... - © Vasari

Wien. Baustelle. Unfall. Stau. Kaum eine andere Straße wird so stark mit diesen drei Begriffen assoziiert wie die Stadtautobahn Tangente, die den Süden Wiens in zwei Hälften teilt. 170.000 Fahrzeuge passieren pro Tag die 18 Kilometer lange Strecke. Damit ist sie Österreichs meistbefahrene Straße. Doch so sehr jeder Kilometer der in Höhenlage verlaufenden Autobahn den Alltag vieler Wiener bestimmt - der Altmannsdorfer Ast, der Knoten Inzersdorf oder die Hanssonkurve gehören zum Wiener Sprachgebrauch, wie Schnitzel, Spritzer oder Geisterbahn -, so sehr wird der Bereich unterhalb ausgeblendet. Ein Bereich, der als Niemandsland dahinvegetiert und oftmals als Abstellplatz für Autos, Baumaterialien oder Gerümpel genutzt wird.

Dabei könnten diese Flächen - vor allem dort, wo die Autobahn auf Stelzen steht - auch eine Art Begegnungsstätte sein, wo Kunst, Kultur und Urbanität zusammentreffen. In der immer schneller wachsenden und enger werdenden Stadt werden Freiräume dieser Art immer weniger vorhanden sein. Freiräume, wo man ausprobieren kann und wo etwa Lärm und nächtliche Veranstaltungen niemanden stören. Die derzeitige Funktion der Tangente als Mauer könnte damit abgeschwächt oder sogar aufgehoben und die südlich gelegenere Stadtregion Simmering und Süd-Favoriten näher an die Stadt gebunden werden.

Dabei wären diese Räume ideal für Kunst- und Kulturprojekte, wie der temporäre Club Kantine Vienna im alten Zollamt zeigt. - © Volume.at
Dabei wären diese Räume ideal für Kunst- und Kulturprojekte, wie der temporäre Club Kantine Vienna im alten Zollamt zeigt. - © Volume.at

Dass der Bedarf groß ist, zeigt auch der Fall des alten Zollamtes in der Schnirchgasse, nur wenige Meter vom Autobahnkreuz Tangente/Ostautobahn entfernt. Neben der derzeitigen Kunstmesse Parallel Vienna, die noch bis Sonntag stattfindet, wird sich bis zum geplanten Wegriss des Gebäudes Anfang 2015 auch der Club Kantine Vienna dort einmieten. Rund 1000 Feierwütige kamen zur inoffiziellen Eröffnung, die vergangenes Wochenende stattfand. Am Freitag lädt der Club zur offiziellen Eröffnung.

Kultureller Stillstand


Die Erwartungen sind groß, der Kantine wird ohne Weiteres ein Spitzenplatz in der Wiener Clubszene zugetraut. Dafür verantwortlich wird neben der Auswahl der DJs auch die Soundanlage sein, mit der man auf Augenhöhe wie internationale Topclubs à la Berghain in Berlin agiert, die von derselben Anlage beschallt werden. Die Nachbarn werden von dem Druck des Soundsystems allerdings nichts mitbekommen, denn in den anliegenden Büros werden zur Partystunde die Rollos schon längst heruntergefahren sein. Kulturelle Bewegungen dieser Art gibt es auch auf dem Gelände St. Marx, auch wenn diese nur als zaghafte Versuche eingestuft werden können. In der Rinderhalle werden im durchschnittlichen Monatsabstand Konzerte veranstaltet und auf der Nebenfläche - dort wo der ORF seine Zelte hätte aufschlagen sollen - finden in unregelmäßigen Abständen Events wie Cirque du Soleil oder das Fest der Farben statt.

Darüber hinaus herrscht aber kultureller Stillstand entlang der trostlosen Flächen an der Tangente. Hört man sich bei den Anrainern um, dann scheinen diese sich mit dem Status quo angefreundet zu haben. Sie seien aber auch noch nie gefragt worden, wenn es um die Tangente ging, so der Tenor bei einem Lokalaugenschein der "Wiener Zeitung."

Um diese trotzige Haltung zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Beziehung zwischen der Tangente und ihren Anrainern ansehen. Emilie Krebs (80) wohnt seit den 1950er Jahren in jenem Gemeindebau an der Geiselbergstraße im 11. Bezirk, vor dem die Autobahn in den 1970er Jahren gebaut wurde. Nur ein paar Meter trennen die Autostraße von den Fenstern der Bewohner. Und dort, wo heute die Tangente verläuft, war zuvor ein Spielplatz mit Fußball-Käfig.

"Die Autobahn wurde damals einfach gebaut. Das wurde vom Schreibtisch aus entschieden. Was hätten wir denn dagegen machen können? Ich habe mit meinen beiden Mädchen, einen Buben und Mann auf 48 Quadratmetern gelebt. Ein jeder war froh, wenn er eine Wohnung bekommen hatte", erzählt Krebs.

Auch Lisbeth Reiter (58) erlebte den Bau der Autobahn hautnah mit. Sie wuchs in einer jener Schrebergartenanlagen auf, in der einige Grundstücke für die Tangente Platz machen mussten. Die Gärtner wurden bei der Planung nicht eingebunden.

"Die Betroffenen erhielten damals einen Bescheid und mussten die Parzelle aufgeben", erinnert sich Reiter. Dagegen zu protestieren, wäre sinnlos gewesen. Die 58-Jährige kritisiert allerdings auch die damals fehlende Solidarität in der Nachbarschaft. Man habe sich zwar Gedanken gemacht, welche Gärten wegkommen könnten, letztendlich habe man aber nur auf sich geschaut. "Und wenn der Tichy-Eiswagen vorbeigefahren ist, dann war alles wieder gut."

"Rechtslage ist die Krux"


Nur einmal gab es Protest während des Baus der Stadtautobahn. Dabei wehrten sich Anrainer erfolgreich gegen einen bereits in Bau befindlichen Verkehrsknoten am Fuße des Laaer Bergs. Geblieben ist die gesperrte Ausfahrt Simmering, eine Betonrampe, die bis heute nicht befahren werden darf. Auch wenn sich die Bürger hier durchsetzen konnten, der Protest blieb eine Ausnahme.

"Man hat gelernt, mit der Autobahn zu leben", sagt Franz Jerabek (SPÖ) von der Bezirksvorstehung des 10. Bezirks zur passiven Haltung der Anrainer. Doch auch in der Politik gibt es anscheinend wenig Bestrebungen, die Flächen unterhalb der Tangente kulturell aufzuwerten. Wichtig ist und bleibt, was oben passiert: "Wir sind froh, dass der Verkehr nicht im Bezirk ist", sagt Jerabek. "Das merken wir, wenn ein Unfall auf der Tangente passiert und dann alle durch den Bezirk fahren."