Wien. Die Hauptstadt in den Dreißiger Jahren. Maria hat ihren ersten Schultag in der Hauptschule. Als sie in die Klasse kommt, sind die anderen Mädchen schockiert, lachen sie aus und schimpfen sie: "Oje, die Ziegelböhm sind da!" Aber wieso? Marias Nachname bringt mehr Licht in die Situation. Sie heißt Csebits und ist die Tochter tschechischer Arbeiter in den Wienerberger Ziegelwerken in Favoriten. "Die haben uns dort so geschimpft. Naja, was hätten wir sagen sollen? Wir haben sie halt schimpfen lassen. Die Schimpferei haben wir uns gefallen lassen müssen, nur weil wir am Wienerberg gewohnt haben und böhmisch geredet haben", erzählt sie.
Maria Csebits ist eine der Zeitzeugen, die im Projekt "Wien und die Ziegelböhm" zu Wort kommen. Im Herbst 2012 von der Wiener Serviceagentur "Wohnpartner" gestartet und in Kooperation mit vielen Partnern wie dem Wien Museum oder dem Bezirksmuseum Favoriten verwirklicht, steht der Alltag der größtenteils aus dem damaligen Böhmen und Südmähren stammenden Ziegelarbeiter in den Wienerberger Werken im Vordergrund. Diese tausenden Arbeiter leisteten den im wahrsten Sinne des Wortes fundamentalsten Beitrag zum Bauboom der Gründerzeit, weil sie die Millionen an Ziegeln, die für die Prachtbauten der Ringstraße verwendet wurden, per Hand herstellten.

Anfangs kamen sie noch als Saisonarbeiter. Vor allem aus den von wirtschaftlichen Krisen geplagten Regionen Böhmen und Südmähren zog es tausende Männer auf der Suche nach einer Beschäftigung nach Wien. Ab den 1870er Jahren zogen vermehrt ganze Familien nach Wien, um in den Wienerbergerwerken der Vorstädte zu leben und als "Familienpartien" zu arbeiten.
400 Kilometer Fußmarsch nach Wien
So auch die Vorfahren von Josef Vejvancicky. Er bildet mit seiner Tochter Irene Kubinecz und der Gitarristin Andrea Saeed die Musikgruppe "Trio Con Moto", die bei der Ausstellungseröffnung für die musikalische Untermalung sorgte. Sie alle sind Nachfahren der Ziegelböhm.
"Meine Urgroßeltern sind nach ihrer Heirat 1882 in Habartice sofort nach Wien gegangen. Sie haben über vierhundert Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Wenn ich das heute meinen Enkeln erzähle, glaubt mir das keiner", erinnert sich Vejvancicky. "Meine Urgroßeltern haben in Wien dann zwar unter erbärmlichen Umständen existiert, aber sie haben überlebt. Damals den nächsten Tag zu überleben, das war eine Leistung."
Männer waren als Lehmscheiber, Frauen als Ziegelschlägerinnen oder Mörtelschmiererinnen (die sogenannten "Maltaweiber") eingeteilt. Auch den Kindern blieb die harte Arbeit nicht erspart. Als "Aufreiber" mussten sie die noch feuchten Ziegel zum Trocknen aufschichten. Die wohl undankbarste Arbeit war die der "Sandler". Sie mussten die Lehmformen mit Sand ausstreuen, damit die Ziegel nicht kleben blieben. Diese Aufgabe wurde von Leuten erledigt, denen man nicht zumutete, dass sie für irgendeine andere Arbeit taugten. Die "Ziegelböhm" waren die ersten Träger dieser damals schon abfällig gebrauchten Bezeichnung.
Doch wurden Arbeitskräfte mehr denn je gebraucht. Denn spätestens mit der Ende 1857 nach dem "Willen" Kaiser Franz Josephs I. angeordneten Schleifung der Ringmauern und dem Bau der Ringstraße setzte in der Hauptstadt ein regelrechter Bauboom ein, der weit nach ihrer Einweihung im Jahr 1865 anhielt. So verbrauchte die Bauwirtschaft im Jahr 1872 beispielsweise 330 Millionen Ziegelsteine.
Lieferant des begehrten und in Unmengen verbauten Materials waren die Wienerberger Ziegelwerke, die 1820 von Alois Miesbach gegründet und später von seinem Neffen Heinrich Drasche (sein Name ist der Ursprung der eingebrannten Initialen "HD" auf den Ziegeln) weitergeführt wurde. In den 1850er Jahren wurden neben sozialen Einrichtungen wie Schulen und Spitälern Wohn- und Freizeitmöglichkeiten für die Werksarbeiter errichtet und zu betriebseigenen "Städten" zusammengefasst.
Somit sollte die Kontrolle und Bindung der Werksarbeiter an das Unternehmen gewährleistet werden. Der Zuzug an Arbeitskräften durch den gründerzeitlichen Bauboom war enorm, sodass sich die Beschäftigtenzahlen bei Wienerberger zwischen 1850 und 1870 mehr als verdoppelten. 1869 verkaufte Heinrich Drasche sein Unternehmen an ein Bankenkonsortium und die Wienerberger Ziegelwerke wurden in die Wienerberger Ziegelfabriks- und Bau AG umgewandelt. Damit sollte sich für die "Ziegelböhm" einiges ändern - und das nicht unbedingt zum Guten.
Leben in Baracken
Die Wohnsituation für diese Familien verschlechterte sich dramatisch. Erhielt früher noch jede Familie einen Wohnraum, bestehend aus Zimmer und Küche, wurden die hundert Arbeiterwohnhäuser, die Miesbach und Drasche 1850 am Wienerberg errichten ließen, nun in Baracken umgewandelt.
Oft mussten sich vierzig bis fünfzig, manchmal sogar siebzig Leute einen Wohnraum teilen, aus denen die Küchen herausgerissen wurden, um so viele Arbeiter wie möglich in ein Zimmer pferchen zu können. Schlafen auf dem nackten Fußboden war keine Seltenheit. Die Miete dafür wurde vom Lohn abgezogen. Sogar Pferdeställe und Ringöfen hielten - meist für ledige Männer, die sogenannten "Ringspatzen" - als Schlafstätten her.