Amsterdam. Bereits bevor man noch holländischen Boden betritt und im landeseigenen Flieger KLM in Richtung Amsterdam sitzt, ahnt man schon, welche Bedeutung das Fahrrad für die Stadt unter dem Meeresspiegel hat. Gleich zwei Räder wurden auf dem Plastikbecher abgebildet, in dem das Getränk serviert wird. Die für Holland typischen Holzschlapfen und Tulpen und sogar das Logo der Fluglinie scheinen hingegen nur einmal auf.
Auch Bahnfahrer stoßen beim Verlassen des Amsterdamer Hauptbahnhofes als Erstes auf einen gigantischen Radparkplatz für mehr als 10.000 Bikes, bevor sie einen Blick auf das mittelalterliche Stadtzentrum werfen können. Und wer schon einmal versucht hat, mit dem Auto durch die holländische Hauptstadt zu fahren, wird ebenso feststellen: Die Stadt gehört den Radfahrern. Wer ein Foto von der Stadt machen will, muss sich schon geschickt anstellen, um nicht ein Fahrrad mitzuknipsen.

immer mehr Stromtankstellen für Elektro-Autos auf der Straße platziert
werden. Pascal van den Noort: PR-Berater von Amsterdam (r.u.). - © Bernd Vasari
Wenn man durch Amsterdam spaziert, bekommt man das Gefühl, dass die Holländer vieles von dem, worüber die anderen Europäer noch reden, schon längst verwirklicht haben. Während in Wien nur sieben Prozent der Bewohner ihre Wege mit dem Fahrrad zurücklegen, sind es in Amsterdam 50 Prozent. Tendenz steigend. Hier radelt der Anzug tragende Banker mit fliegender Krawatte, wenn er ins Büro fährt, der hippe Mittzwanziger mit schicker Frisur, wenn er sich abends auf dem Weg in den Club macht, und Polizisten, wenn sie im Einsatz sind.

Egal ob bei Sonne, bei Regen, bei Schnee oder bei Eis. Auch Kleinkinder und Senioren zwängen sich auf ihren Bikes durch die engen Straßen mit den braunen Pflastersteinen. Ohne Sportkleidung oder Radhelm versteht sich. Schließlich gilt das Rad als Verkehrsmittel und nicht als Freizeitsportgerät, betonen die Amsterdamer: "Wenn ich mit dem Bus fahre, ziehe ich mir auch kein Busdress an", sagen sie. Und ohne Helm würden die Autofahrer besser aufpassen. Dabei gehört der Autofahrer ohnehin nur einer Minderheit an, die sich angesichts der Überzahl an Radlern zumeist nur im Schritttempo durch die Stadt wagt.
Fahrrad-Brücke um 14 Millionen Euro
Einer Stadt, in der es nicht ungewöhnlich ist, wenn 14 Millionen Euro für den Bau einer Rad-Brücke ausgegeben werden. Wo Radfahrer gemeinsam mit Fußgängern gratis im Fünf-Minuten-Rhythmus per Schiff an das andere Ufer gebracht werden und für Radwege durch künstliche Aufschüttung im Wasser Land gewonnen wird. In Amsterdam wird man Zeuge eines Lebensgefühls bei dem Radfahren so gewöhnlich ist, dass man gar nicht mehr darüber nachdenkt. "Wir sind wie Fische im Wasser. Der Fisch ist der Letzte, der weiß, was Wasser ist", sagt Pascal van den Noort, der seit Jänner die Stadtregierung im Bereich Marketing berät.
Seine Aufgabe ist es, den Amsterdamern die Errungenschaften des Radfahrens wieder ins Bewusstsein zu rufen. Denn die Selbstverständlichkeit sei zu einem Problem für das Image der Stadt geworden, sagt er. "Wir müssen unseren Erfolg auch verkaufen, sonst schlagen wir uns unter unserem Wert." Als Beweis lädt van den Noort zu einer mehrstündigen Radtour durch die Stadt ein. Der Marketing-Experte - braunes Sakko, graues nach oben gegeltes Haar und weiße Designer-Brille - hat sein Klapprad mitgebracht und gibt das Tempo vor. Während er in die Pedale tritt, redet er in einem Schwall, ohne dabei außer Atem zu kommen. Dass er bereits 65 Jahre alt ist, merkt man ihm nicht an.
Ellbogen an Ellbogen fügt man sich gemeinsam in den Schwarm von Radfahrern. Hin und wieder kommt es zu Berührungen mit anderen Radlern. Diese werden aber schulterzuckend hingenommen. Die Amsterdamer sitzen auf klapprigen Stadträdern, mehr als zwei Meter langen Lastenfahrrädern mit Holzkisten vor dem Lenkrad und Elektro-Bikes. Oftmals auch mit Kinderanhängern, Gepäckabteilen oder Taschen an der Lenkstange. Die Sitzposition ist stets aufrecht. Einige fahren nebeneinander und plaudern. "Radfahren ist hier eine soziale Sache. Wir radeln, so als würden wir an einem Tisch sitzen. Es ist ganz normal sich beim Radfahren zu unterhalten", erklärt van den Noort.
Kommunikation durch Augenkontakt
Kommuniziert wird per Augenkontakt oder Klingeln, um auf sich aufmerksam zu machen. Verkehrszeichen gibt es kaum. Sie würden den Verkehrsfluss stören, sagt van den Noort. Selbst in schmalen Straßen, wo nur ein Auto Platz hat, dürfen Radfahrer in beide Richtungen fahren. Auto und Radfahrer nähern sich einander in langsamer werdendem Tempo an und weichen aus, ohne stehen zu bleiben aus.
Für den Amsterdamer seien solche Verkehrssituationen nichts Besonderes, sagt van den Noort. Unfälle gebe es selten. Gefährlich werde es nur, wenn ein Tourist auf das Rad steigt. Viele seien ungeübt und schlichtweg überfordert. Ausländer, die nach Amsterdam ziehen, haben daher die Möglichkeit, Unterricht im Fahrradfahren zu nehmen.
Doch Amsterdam war nicht immer ein Ort der gelebten Fahrrad-Utopie in Europa, auch wenn viele Amsterdamer mit der Selbstverständlichkeit des Fahrradfahrens aufgewachsen sind. Die Fünfziger und Sechziger Jahre haben sie nicht erlebt, als die Zahl der Autos rasant anstieg. Zwischen 1960 und 1970 vervierfachte sich der Autoanteil. In den Siebzigern sollte die Stadtplanung dann dem motorisierten Verkehr untergeordnet werden. So wie es damals auch in anderen Städten üblich war. Geplant waren bis zu siebenspurige Straßen, denen ganze Häuserreihen zum Opfer fallen sollten, erzählen ältere Amsterdamer. "Autofahren war damals Fortschritt", sagt einer. Doch die Siebziger waren in Europa nicht nur das Jahrzehnt des Autos, sondern auch ein gutes Jahrzehnt für Protest und Bürgerbeteiligung.