Wien. Der Aufzug hat Bianca Binger ans hintere Ende des Bahnsteigs gebracht. Ihre kleine Tochter Lara im Kinderwagen wird schon unruhig. Ein kleines blaues Schild an der Schnellbahn-Tür und eine freundliche, aber distanzierte Bahnhofsdurchsage teilen ihr mit, dass sie mit dem Kinderwagen nur ganz vorne einsteigen darf. Aber in den eineinhalb Minuten, die sie bis nach ganz vorne braucht, ist der Zug schon wieder abgefahren.

Auf Anfrage der "Wiener Zeitung" führt ÖBB-Sprecher Michael Braun die Fahrgastsicherheit als Grund für das hintere Einstiegsverbot an: "Wir möchten, dass der Fahrzeugführer für die Sicherheit der Fahrgäste sorgen kann. Egal, wie viele Menschen auf dem Bahnsteig die Sicht versperren, die Personen beim ersten Einstieg sieht er immer." - "Schön, dass der Fahrer die erste Tür besser einsieht, aber hilft er mir dann auch?", fragt Bianca, die mit dem Kinderwagen schon viele schlechte Erfahrungen in der S-Bahn gemacht hat. Auch Hilfsbereitschaft der anderen Passagiere vermisst sie oft: "Manche Leute bieten sofort ihre Hilfe an, aber die meisten schauen mir erst einmal eine Weile zu, wie ich mich abmühe, und reagieren erst, wenn ich explizit um Hilfe bitte." Alleine schafft sie das Ein- und Aussteigen bei den alten blau-weißen Garnituren nicht. "Einmal war der Bahnsteig fast leer, da musste ich erst jemanden heranwinken, sonst wäre ich gar nicht aus dem Zug gekommen."

Das Kinderwagenverbot bei den hinteren Einstiegen ist allenfalls eine Zwischenlösung. Barrierefreie Züge müssen her. 119 blau-weißen Schnellbahnen vom Typ 4020 sind noch im Großraum Wien im Einsatz. Sie stammen aus den späten 1970ern und waren damals Vorreiter in Europa. Doch barrierefrei sind sie nicht. "Der Einstieg ist so schmal, dass ich mit dem Wagen kaum durchkomme. Und im Waggon habe ich immer das Gefühl, den anderen Leuten den Weg zu versperren, weil kein Platz ist", klagt Bianca.

Dass die 30 Jahre alten Standards unhaltbar sind, bestätigt auch Braun: "Wir haben 101 neue Nahverkehrszüge bestellt, 66 davon werden ab Dezember in Wien und Niederösterreich fahren." 660 Millionen Euro nehmen die ÖBB dafür gemeinsam mit den Ländern in die Hand. Der komplette Austausch der 4020er gegen neue Cityjets wird aber nicht vor 2020 oder 2025 vollzogen sein. Die nötigen Züge könnten auch gar nicht so schnell gebaut werden, gibt Braun zu bedenken. "Die stapeln sich nicht in einem Lagerhaus, die müssen alle von Hand gefertigt werden."

Nachholen von Versäumnissen


Laut Braun holen die ÖBB nun Versäumnisse der Jahrtausendwende nach, als Barrierefreiheit noch kein so prominentes Thema war. Aber das dauere eben. 2 Milliarden Euro haben die ÖBB in den vergangenen zehn Jahren für neue Fahrzeuge ausgegeben. Zum Vergleich: Allein der neue Wiener Hauptbahnhof hat 1 Milliarde Euro gekostet, bei der Koralmbahn sind es 5,4 Milliarden Euro, beim Semmering-Basistunnel 3,3 Milliarden Euro. Wäre es nicht sinnvoller, Aufrüstungen im Nahverkehr, in dem die ÖBB jährlich 200 Millionen Fahrgäste transportieren, diesen Großprojekten vorzuziehen? "Man kann die Dinge leider nicht in Schwarz und Weiß unterteilen", so Braun. Die Projekte kämen auch dem Nahverkehr enorm zugute. Man könne auch nicht alle Kräfte auf ein einzelnes Thema bündeln und andere Bereiche dafür vernachlässigen.

In vielen Stationen erschweren aber das Fehlen von Aufzügen und Treppen ohne Rampen, überhaupt zum Zug zu kommen. Auch das soll sich ändern, mehrere Bahnhöfe werden umgebaut. "Derzeit haben etwa 66 Prozent aller Fahrgäste einen barrierefreien Bahnhof, also mit Aufzügen und so weiter. Bis 2025 wird das für 90 Prozent unserer Fahrgäste gelten", verspricht Braun. Wie lange die letzten 10 Prozent - immerhin an die 130.000 Personen täglich - warten müssen, ist noch unklar.

Das Einstiegsverbot für Kinderwagen an den hinteren Türen der 4020er-Züge soll Anfang 2016 fallen, bis dahin werden Lichtsensoren montiert. Die letzte blau-weiße Garnitur wird wohl erst eingemottet, wenn Lara schon ins Gymnasium geht. Ihre Mutter nimmt vorerst "lieber zehn Umwege, als mit dem Kinderwagen mit der S-Bahn fahren zu müssen".