Wien. Wo früher türkischer Ayran über den Ladentisch geschoben wurde, soll bald Platz sein für die Prinzessin auf der Erbse. Wo Betten und Kissen verkauft wurden, sollen nun die Federn der Frau Holle aufgeschüttelt werden. Zumindest für einen Monat lang. "Wie(n) verzaubert" heißt das Gemeinschaftsprojekt der 40 Künstler und Freiwilligen, die aus leerstehenden Schaufenstern märchenhafte Schaukästen machen wollen. Sechs Märchen sollen in ihren wichtigsten Szenen in den Auslagen der Reindorfgasse im 15. Bezirk dargestellt und erzählt werden. Frau Holle, Hänsel und Gretel, der standhafte Zinnsoldat, die Prinzessin auf der Erbse, der Froschkönig und die Schneekönigin. Von 11. September bis 11. Oktober werden sich die verstaubten Fensterläden in eine bunt dekorierte Traumlandschaft verwandeln, voller verwunschener Prinzen, hinterlistiger Mütter, böser Hexen und verlockender Knusperhäuschen. Eigens komponierte Musik von professionellen MusikerInnen soll gespielt werden und künstliche Lichter werden eine Aurora Borealis in der kleinen Wiener Gasse schimmern lassen.

Lars van Roosendaal ist täglich an den leerstehenden Geschäften in seinem Wohnbezirk vorbeigegangen und hat darin nicht nur Staub, sondern vor allem ungenutztes Potenzial, gesehen. "Das wollte ich ändern", sagt der Grafikerdesigner und Organisator der Initiative, als er bei einer Limonade am Schwendermarkt sitzt, gleich gegenüber der Grimmgasse, nur zwei Straßen vom baldigen Stadtmärchenpfad entfernt. Er sagt das bestimmt, er ist kein Träumer, er ist ein Macher.

Bei dem Projekt gehe es ihm darum zu zeigen, dass es möglich ist, in seiner eigenen Wohnumgebung etwas zu verändern. Früher, noch zur Kaiserzeit, habe es in Wien in jeder Straße spezialisierte Geschäfte gegeben, einen Bäcker, einen Gemüsehändler, heute würden die Menschen zum Billa gehen und die Geschäfte blieben leer. "Und was passiert dann? Die Menschen blenden den Leerstand aus. Sie nehmen ihre eigene Umgebung nicht mehr wahr", sagt van Roosendaal. "Wenn ich aber das Gefühl habe, ich kann etwas verändern, dann entsteht auch Bindung. Und die Erkenntnis, dass die eigene Wohnumgebung etwas Magisches hat."

Letztes Jahr beschloss Lars van Roosendaal, der in Den Haag Internationales Kommunikationsmanagment studiert und schon für den Life Ball das Leitsystem entwickelt hat, das zu ändern. Er ging zur Gebietsbetreuung und stellte seine Idee zu den Märchen im Schaufenster vor. Ursprünglich im 14. Bezirk, in van Roosendaals Wohnbezirk geplant, wurden nun leerstehende Räume im 15. Bezirk gefunden.

Für die 40 Mitwirkenden geht es nicht nur um eine Grätzlbelebung, sondern auch um Identität. Für van Roosendaal sind Märchen archaisch, wie er sagt. Es geht um die großen Fragen, die in allen Kulturen vorkommen. Was ist das Böse? Wann bin ich gerecht? Was ist das Gute? "Märchen waren das Fernsehen des Mittelalters", sagt er. Und als solches hatten sie ihre Botschaft zu vermitteln. "Das gilt bis heute. Die großen Fragen haben sich nicht verändert. "

Warum soll die Prinzessin so einen Prinzen wollen?


Die Debatten allerdings schon. Ob die Kinderbuchdebatte auch die Botschaft der Märchen beeinflusst hat? "Wir versuchen nicht unbedingt über die Inhalte der Märchen Botschaften zu kommunizieren", sagt van Roosendaal. Das Kollektiv arbeitet ausgehend von den Originaltexten.

"Aber natürlich bedeutet Gestaltung auch Interpretation." Die Geschichte der Prinzessin auf der Erbse hat eine solche Transformation durchlaufen. Der Prinz geht auf Reisen, um eine passende Prinzessin zu suchen, doch er findet keine. Zu dick, zu hässlich, hatten die Kreativen rund um "Wie(n) Verzaubert" überlegt. Doch das war ihnen zu oberflächlich. Warum sollte eine Prinzessin einen solchen Prinzen wollen? Konnte es nicht sein, dass der Prinz gar nicht zu den Prinzessinnen passte anstatt umgekehrt? Eine Illustratorin zeichnete also Prinzessinnen mit Eigenschaften, anstatt auf Äußerlichkeiten reduziert. Eine wollte immer nur Spaghetti kochen, eine andere hatte einen Drachen als Haustier. Und der Prinz hatte Angst vor Drachen. Die beiden passten einfach nicht zusammen. Bis der edle Prinz schließlich seine Holde findet.

Kulturelle Unterschiede spielen bei dem Projekt eine große Rolle. Deshalb wird es neben den Schaufenstern auch kleine Texte zum jeweiligen Märchen geben, auf Deutsch, Türkisch, Bosnisch-Serbisch-Kroatisch und Englisch.

Nicht nur sprachlich soll es eine Vielfalt geben, auch die Märchen und Sagen an sich sollen den europäischen Raum von den Brüdern Grimm bis Hans Christian Andersen überschreiten. "Wie(n) verzaubert" kooperiert mit Prosa, dem Projekt Schule für Alle, das sich um Bildungschancen für junge Flüchtlinge bemüht, aber auch vielfältige gesellschaftliche Ausschließungspraxen, wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie, in den Blick nimmt. Gemeinsam mit Jugendlichen von "Prosa" werden weitere Märchen hinzugefügt und von professionellen Graffiti-KünstlerInnen umgesetzt.