Wien. "Die Leber ist vergrößert, abgerundet, teilweise wellig konturiert, diffus vergröbertes Strukturmuster und zirrhosetypische Gefäßzeichnung sichtbar. Die Milz mit 121 mm grenzwertig groß. Die Gallenblase ist postprandial kontrahiert, nicht beurteilbar. Das Pankreas durch Meteorismus bzw. durch Mageninhalt hochgradig überlagert, in den einsehbaren Abschnitten verbreitert, echoarm."

"Klingt so ziemlich nach Totalschaden." Mit zittrigen Händen legt Harald den Arztbefund auf den Küchentisch. Schon ewig gehegte Befürchtungen haben sich soeben in Form einer kühlen, ärztlichen Analyse als fatale Realität bestätigt. Eine Realität, die in Österreich kein Einzelfall ist.

Alkohol ist immer und überall verfügbar. Kinder trinken stolz den Schaum von Papas Bier, Jugendliche besaufen sich immer früher mit komatösen Mengen an Alkopops, der erste Rausch ist eine Art Ritual. Menschen, die keinen Alkohol trinken werden von der Allgemeinheit als langweilig und suspekt angesehen. Vor allem in der Vorweihnachtszeit gehört der eine oder andere Punsch, Glühwein oder Schnaps bereits am Vormittag zum guten Ton. Der Rausch als täglicher Begleiter.

Doch über die Schattenseiten des fröhlichen Dahinsaufens wird geschwiegen. Dabei kann es jeden treffen. Die Sucht nach Alkohol ist nicht nur Labilen und Depressiven vorbehalten. Laut Sucht- und Drogenkoordination Wien trinken über 14 Prozent der österreichischen Bevölkerung ab dem 16. Lebensjahr riskante Mengen an Alkohol, bis zu fünf Prozent gelten als alkoholabhängig. In Wien sind das immerhin 35.000 bis 75.000 Menschen. Die Datenlage sei aber extrem schlecht, die Dunkelziffer kaum abschätzbar.

Trotzdem ist die Gefahr nur wenigen bewusst. Auch Haralds Vater kann es kaum glauben, als er den Arztbefund seines Sohnes in den Händen hält. Immer wieder überfliegt er mit Tränen in den Augen das Stück Papier. Die Stille ist keine peinlich berührte, sondern ein zutiefst geschockter Zustand. Die Wanduhr tickt aufdringlich laut. "Wenn ich so weiter saufe, bin ich in ein paar Monaten tot - spätestens. Und das mit dreißig", sagt Harald.

Das war vor vier Jahren. Genauso weitergetrunken hat er nicht. Getrunken trotzdem. Im Moment liegt Harald auf der Station 4C, der psychischen Intensivstation des allgemeinen Krankenhauses Wien (AKH). Psychiatrische Intensivstation bedeutet häufig Endstation. Der kleine, wie der Hochsicherheitstrakt einer Strafanstalt abgeschottete, Teilbereich der psychiatrischen Universitätsklinik bietet höchstens für zehn Patienten Platz.

Besucher müssen sich beim Eingang einen grünen Plastikkittel über die Kleidung werfen. Am Gang ist leises Wimmern zu hören, durchbrochen von panischen Schreien. Es riecht nach scharfem Desinfektionsmittel. Harald ist im Zuge seines vierten Entzuges hierher verlegt worden. Denn nach dreitägigem Krankenhausaufenthalt fiel er ins sogenannte Delir, eine bekannte, wenn auch eher seltene, körperliche Reaktion auf den plötzlichen Entzug von Alkohol. Ein Delirium tremens tritt bei etwa fünf Prozent aller alkoholabhängigen Personen auf. Unbehandelt führt es bei 25 Prozent zum Tod. Das Delirium ist mit einer Vielzahl qualvoller Zustände verbunden. In Haralds Fall verlor er langsam völlig den Bezug zur Wirklichkeit. Er war orientierungslos, hörte Stimmen, sein Körper verkrampfte sich, er sah Hunderte Käfer über den Boden kriechen, schlug wild um sich, bis er schließlich ans Bett geschnallt und mit sedierenden Medikamenten vollgepumpt wurde. Die Angstzustände dauerten, bei nicht abnehmender Intensität, drei volle Tage.

Danach beruhigte sich sein Zustand langsam und nun liegt er hier und grinst seinen Vater an. Die Stimme ist leise, der Geist langsam aber wach. Er wirkt zuversichtlich. Sie reden über die Zukunft, eine Zukunft ohne Alkohol und Depressionen, über das bevorstehende Jahr. Alles soll besser werden, alles wird gut, sagen sie sich. Die Zeichen stehen auf Neubeginn. Ein kompletter Reboot des Körpers und des Lebens. Er spricht sogar davon, sich einen Job zu suchen.

Rückfallquote
von über 90 Prozent

Die Chance, dass Harald nie wieder Alkohol trinken wird, ist - statistische gesehen - allerdings äußerst gering. Denn die Rückfallquote bei Alkoholabhängigen liegt in Österreich ohne regelmäßige, weiterführende ambulante Behandlung bei rund 90 Prozent.

Harald weiß das. Schon viermal war er Teil dieses Prozentsatzes. Schon viermal landete er in der Entzugsstation des AKH Wien. Man kennt und grüßt ihn. Hier wird die Masse der Suchtkranken regelrecht abgefertigt. Betten stehen nie lange leer, ganz im Gegenteil, sie sind noch warm vom Patienten davor.

Das Betreuungsangebot der Stadt kann mit der hohen Anzahl von alkoholkranken Wienern nicht mithalten. "Das Leistungsangebot entspricht nur sehr bedingt den Bedürfnissen der Betroffenen", steht im Konzept von "Alkohol 2020" der Sucht- und Drogenkoordination Wien. Ambulanzen seien kaum entwickelt und würden fast ausschließlich der Vor- und Nachbetreuung einer stationären Behandlung dienen. Daher würden derzeit in Wien nur sechs Prozent der betroffenen über qualifizierte Betreuungsangebote erreicht werden. Die Betreuungssituation für alkoholkranke Menschen stelle sich etwa so dar, wie die Situation für Abhängige von illegalen Substanzen vor mehr als zwei Jahrzehnten. Das Pilotmodell "Alkohol 2020" versucht nun ein integriertes System von Betreuungsangeboten in Wien aufzubauen.