Wien. London bekommt demnächst einen Bürgermeister für die Nacht. Derzeit schreibt die britische Hauptstadt den Posten eines sogenannten "night czar" aus: 35.000 Pfund Gehalt für gerade einmal zweieinhalb Tage Arbeit pro Woche – nämlich am Wochenende. Der "Zar der Nacht" soll diplomatisch zwischen Stadt, Polizei, Clubbetreibern und Verkehrsbetrieben vermitteln. Letztere lassen ab 7. Oktober zwei U-Bahn-Linien sogar die ganze Nacht hindurch fahren. Denn die Metropole an der Themse will ihr Image als 24-Stunden-Stadt aufpolieren. Bürgermeister Sadiq Khan erhob die legendäre Clubkultur als Teil der "night time economy" zu einer seiner "Kernprioritäten".

Ganz anders sieht die Situation im deutschsprachigen Raum aus. Nachtleben ist zwar auch hier ein Wirtschaftsfaktor, gilt ökonomisch allerdings als noch kaum erforscht. "Im Kontext der Stadtentwicklung ist das ein blinder Fleck", sagt Stadtplaner Jakob Schmid bei der Podiumsdiskussion "Haben Sie Wien schon bei Nacht geseh’n?". Ein unerforschtes Gebiet mit großem Potential: 731 "Bars, Tanzlokale, Diskotheken und Clubbingslounges" verteilen sich laut Wirtschaftskammer über das Wiener Stadtgebiet (Stand: Ende 2015). Nach Einbruch der Dunkelheit läuft eine eigene Wirtschaft an, die vom Barkeeper bis zum Türsteher zahlreiche Arbeitsplätze bietet. Doch Zahlen darüber, wie viel Umsatz in den Nachtstunden generiert wird, wurden bisher weder von Wirtschaftskammer noch vom Wirtschaftsforschungsinstitut erhoben.

Clubs als Standortfaktor

Dabei prägen Bars, Clubs und Diskotheken Wiens Stadtbild genauso wie Riesenrad oder Stephansdom. Ausgehmöglichkeiten entscheiden eben auch darüber, ob eine Stadt als lebenswert wahrgenommen wird. Ob junge Menschen zum Studium in eine Stadt ziehen, hängt neben der Studienwahl und den Mietkosten nicht selten auch vom Angebot an Bars und Clubs ab. Vor allem für die 18-35-Jährigen ist das Nachtleben ein wichtiger Faktor.

Gerade der Clubkultur messen Stadtplaner und die Tourismuswirtschaft einen großen Stellenwert zu. "In den vergangenen 20 Jahren wurden Clubs im Elektronikbereich zum Sinnbild eines vitalen Nachtlebens", sagt Schmid. Während sich Kneipen an Randlagen etwa schwer tun, suchen neue Clubs oft gezielt die Peripherie. Sie erschließen neue Räume und werten diese auf. Stichwort: Gentrifizierung. Clubs entwickeln sich auch zu einem Standortfaktor. Ohne das vielzitierte Berghain, einem Club, der in einem ehemaligen Heizkraftwerk residiert, wäre Berlin nicht zu der Techno-Jetset-Stadt avanciert, die sie heute ist. Davon profitieren auch Low-Cost-Airlines wie EasyJet, die im Bordmagazin mit Berliner Ausgehvierteln werben. 10.000 Besucher sollen pro Wochenende nach Berlin kommen, allein um sich dem Nachtleben zu widmen.

Auch Wien Tourismus hat das Potential erkannt. Auf der Website wird nicht nur für das Sissi-Museum und Würstlstände, sondern speziell auch für Wiener Clubs wie den Volksgarten, die Pratersauna oder Bars wie das Schikaneder geworben. Wie viele Menschen explizit wegen des Nachtlebens nach Wien reisen, weiß Unternehmenssprecher Walter Straßer allerdings nicht. Aber: "Unsere laufende Gästebefragung zeigt, dass 16 Prozent der Besucher angeben, Diskotheken, Bars und Clubs aufzusuchen". Mit 60.000 Seitenaufrufen pro Monat zähle "Nightlife" zu den bestgeklickten Bereichen auf der Website, so Straßer.

Schillernde Clubkultur für die einen, Erbrochenes, Lärm und Krawall für die anderen. Denn Ausgeh- und Wohngegenden liegen oft dicht beieinander, Clubs und Wohnzimmer trennen manchmal nur dünne Wände. Deshalb führt Lärmbelästigung durch zu laute Musik oder Gäste vor den Clubs häufig zu Anzeigen und Klagen. In der Vergangenheit mussten deswegen einige Clubs in Wien zusperren – wie die "Wiener Zeitung" berichtete. "Der Nutzungsdruck auf die Innenstädte nimmt zu", sagt Schmid. Denn immer mehr Menschen ziehen in die inneren Lagen der Stadt. Wenn mehr Bewohner auf engerem Raum leben, wächst gleichzeitig auch die Sensibilität. Vom stetigen Zuzug ist auch Wien betroffen. 2015 ist die Hauptstadt um 43.200 Menschen gewachsen – das entspricht der Einwohnerzahl Wiener Neustadts. 2023 soll die Zwei-Millionen-Grenze geknackt werden. Auf der anderen Seite werden Innenstadtrandlagen auch für Clubs attraktiv. Deswegen werde der Konfliktsphäre zwischen Wohnen und Vergnügen in Zukunft eine zunehmende Bedeutung zukommen, schreibt Schmid in "Stadtnachacht", einem Forschungsprojekt über urbane Nachtökonomie aus dem vergangenen Jahr.

Stadt kümmert sich zu wenig

Als "territorialen Konflikt zwischen dauerhafter und temporärer Bevölkerung" beschreibt es Dietrich Henckel vom Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin und zitiert damit einen italienischen Kollegen. Wohnen bzw. Schlafen einerseits und Vergnügen andererseits sind zum Teil unvereinbare Ansprüche. Zudem ist die Kompromissbereitschaft gering, die Intoleranz gegenüber Nachtlokalen hoch. Zunächst müsse man die Parteien aber erst sensibilisieren, dass es unterschiedliche Interessen gibt, schlägt Henckel vor. "Man lebt gerne urban, aber es darf nicht zu laut sein", fasst Schmid das Dilemma zusammen. Er fordert daher, dass Städte ihr Nachtleben studieren müssen und "auch mal nicht aktiv werden", wenn es Probleme gibt. Stattdessen sollten gezielt Freiräume gelassen werden. In die gleiche Kerbe schlägt Silja Tillner. Die Architektin war Mitte der 1990er-Jahre federführend bei der Aufwertung des Gürtels: Damals wurden die leer stehenden Stadtbahnbögen mit Bar- und Clubbetrieben gefüllt, die Wege durch ein neues Beleuchtungskonzept aufgewertet. "Stadtplanung muss integrativ arbeiten und die Nacht als gestalterisches Element begreifen", so Tillner.

Clubkultur als stadtpolitische Zielsetzung? Im Büro von Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny weiß man, wie elementar eine lebendige Clubkultur für Wien ist. Zwischen Stadt und Clublandschaft finde auch ein "indirekter Austausch" statt. Das heißt, finanzielle Förderungen werden nicht nach dem "Gießkannenprinzip" an einzelne Clubs vergeben, sondern an größere Veranstaltungen wie das Waves Festival oder Electric Spring Festival. Das Geld würde "indirekt den Clubs zugutekommen", sagt Sprecher Alfred Strauch. Vielleicht zu wenig. Denn seit 2012 mussten mit dem Club Market, dem Morrison Club und dem Ost Klub drei namhafte Tanzlokale wegen Ruhestörung und Anrainerbeschwerden zusperren. Im Büro des Kulturstadtrats scheint man davor die Augen zu schließen. Über Lärmbeschwerden im Zusammenhang mit Clubs sei man im Bilde, doch das Problem wurde bisher noch nicht an die Kulturabteilung herangetragen, heißt es.