
Wien. Über den Wiener Wurstelprater wurde schon viel geschrieben. Er ist Schauplatz, Thema, Metapher, Symbol in unterschiedlichsten Gattungen. Reportagen, Romane, Theaterstücke, Drehbücher, Gedichte wurden über ihn verfasst. Ferenc Molnárs Lilion trieb hier genauso sein Unwesen wie Carol Reeds dritter Mann oder H.C. Artmanns Ringlgschbüübsizza. Aber nicht nur auf fiktiver Ebene näherte man sich Wiens größtem Spielplatz in seinem 250-jährigen Bestehen. Die Regale der Bibliotheken sind voll mit akademischen Abhandlungen, historischen Abrissen, populärwissenschaftlichen Sachbüchern. Oft gelingt es ihnen nicht, den verklärten Hauch des Praters abzustreifen, ihm nüchtern zu begegnen. Die unzähligen Mythen der Prater-Strizzis, der halbseidenen Unternehmer, der Huren, der menschlichen Abnormitäten schwingen meist mit.
Der Journalist und Autor Clemens Marschall sowie der Betreiber des Wiener Circus- und Clownmuseums Robert Kaldy-Karo haben nun ein neues Buch über den Prater herausgebracht. Mit "Der Wiener Prater. Eine Kultur- und Sittengeschichte" versuchen sie erst gar nicht, den verruchten Pratermythos zu umschiffen, sondern steuern ihn bewusst voll an. Das Wort "Geschichte" im Untertitel des Buches erhebt keinen historischen Anspruch. Es versteht sich in seiner Bedeutung der Erzählung. Schließlich sind die Autoren keine Wissenschaftler, sondern vielmehr Geschichtenerzähler.
Und so ist die Begeisterung für den absurden Kosmos des Praters in jedem einzelnen Unterkapitel spürbar. Es geht um Zauberer, Wundermenschen, Affentheater, Huren, die Löwenbändigerin Henriette Willardt und natürlich den berühmten Rumpfmenschen Nikolai Kobelkoff, der es ohne Arme und Beine schaffte, ein beachtliches Praterunternehmen aufzubauen - um nur einige wenige zu nennen.
Dabei nähern sich die Autoren dem Themenkomplex nicht chronologisch. Das Buch ist geographisch gegliedert. Jedes Hauptkapitel beschäftigt sich mit einem bestimmten Bereich des Vergnügungsparks. Auf Landkarten sind ehemalige und bestehende Fahrgeschäfte, Schaubühnen, Etablissements, Sehenswürdigkeiten verortet, um die sich die Stories des Buches drehen. Sie sind die Hauptdarsteller dieser Pratergeschichte. Die Karten regen an, den Prater selbst wieder einmal zu durchwandern. Wie groß war Venedig in Wien wirklich? Wo stand Präuschers Panopticum, wo die Liliputanerstadt, wo der "Große Chineser" - das Wahrzeichen des Praters, bevor das Riesenrad kam?
Es ist ein Buch für Nostalgiker. Ausführliches, selten gesehenes Bildmaterial veranschaulichen die Texte. Der Prater erstrahlt in seinem gewohnt zwielichtigen, romantisierten Bild des Sehnsuchtsorts für Hedonisten. Wer die Geschichte des Praters also gerne in populärwissenschaftlichen, durchaus unterhaltsamen Erzählungen liest, dem sei "Der Wiener Prater" wärmstens empfohlen.
Wer sich jedoch neue geschichtswissenschaftliche Forschungsergebnisse erwartet, sollte eher nicht zugreifen. So wird der kritische Blick auf den Prater oft nur kurz angeschnitten, nicht vertieft. Das Kapitel über die Zeit des Nationalsozialismus betont beispielsweise im Wesentlichen die Aussage, dass Hitler den Prater nicht mochte, und rückt ihn so automatisch in ein widerständisches Licht. Es stimmt schon, dass der Prater mit seinem Schmuddel-Charme den Machthabern ein Dorn im Auge war. Natürlich gab es aber auch hier Nahverhältnisse zwischen den "Ariseuren" und dem sozialen Gefüge des Praters. Natürlich gab es auch hier Denunzianten und natürlich wurde auch der Prater nach 1945 nicht völlig entnazifiziert. Restitution hat im Wurstelprater kaum stattgefunden.
Trotzdem erfüllt das Buch eine geschichtswissenschaftliche Leistung. Es räumt, trotz teilweiser Verklärung, mit so manchen Irrtümern und historischen Fehlern auf, die in der langen Reihe der bisher erschienen Prater-Bücher bis heute mitgetragen werden.