Wien. Was würden Sie einem Freund eher anvertrauen? Dass Sie eine Blasenentzündung haben? Oder dass Ihnen beinahe die Tränen kommen, wenn Sie an die Arbeit denken? Auch wenn Ersteres mitunter peinlich ist: Die Hemmschwelle, über seelische Erkrankungen zu sprechen, ist viel höher, als über körperliche Leiden zu reden. Im Alter versuchen einige sogar, einander mit den Ausmaßen von Rückenschmerzen und Konsorten zu überbieten. Dabei gibt es wahrscheinlich kaum Menschen, die nie auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben an einer seelischen Erkrankung litten.

Laut Weltgesundheitsorganisation sind weltweit 322 Millionen Menschen - 4,4 Prozent der Weltbevölkerung - allein von Depressionen betroffen. Die Organisation "ganznormal.at" setzt sich für einen offeneren Diskurs über psychische Erkrankungen ein. Neben Plakatkampagnen mit Slogans wie "Eine seelische Erkrankung ist wie Diabetes. Nur nicht so leicht zu erkennen" hat sie nun einige Kinospots veröffentlicht. Darin erzählen Prominente wie die Schauspielerin Adele Neuhauser oder Fußballer Frankie Schinkels, wie sie mit ihren eigenen seelischen Krankheiten umgegangen sind und plädieren "einfach darüber zu reden".

"Bei psychischen Erkrankungen ist es generell sehr problematisch, dass sie nicht sofort erkennbar sind und somit auch weder leicht verständlich noch verstehbar zu machen sind. Daher werden sie gelegentlich mit anderen Seinszuständen verwechselt, die so aber gar nicht vorliegen", erklärt Georg Psota im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der Psychiater und Neurologe ist Fachbeiratsleiter bei Ganznormal.at. Außerdem ist er Chefarzt der psychosozialen Dienste Wien sowie Präsident der Organisation Promente Wien, die Betreuungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen stellt.

Nicht nur im privaten Umfeld, vor allem am Arbeitsplatz sind psychische Krankheiten immer noch stigmatisiert. Der Leistungsdruck ist hoch, man will nicht als faul oder unwillig gelten. "Aber, wenn man eine Depression hat, kann man einfach nicht mehr wollen", gibt Psota zu bedenken. Einige depressive Menschen seien auch derart gestrickt, dass sie trotz Belastung gar nicht in der Arbeit fehlen wollen, aus Angst, die Kollegen im Stich zu lassen. "Das nennt sich auch Repräsentismus. Jemand zeigt, dass er körperlich anwesend ist, geistig ist er aber nicht so stark da, wie er sein könnte", sagt Psota.

Im Arbeitszusammenhang wird oft der Begriff "Burnout" eingeworfen. Er ist zum geflügelten Wort avanciert, unter dem - mitunter auch salopp - eine breite Reihe an stressbedingten Erkrankungen und Erschöpfungen zusammengefasst wird. Dabei handle es sich mehr um ein Syndrom als eine Krankheit, wirft Psota ein. Man sollte eher von einer schweren Depression sprechen, betont der Experte. "Das passiert oft Menschen, die nicht Nein sagen können, die mehr und mehr arbeiten, die alles geben, bis es nicht mehr geht. Um auszubrennen, muss man erst mal brennen. Wenn dann noch andere Probleme dazukommen, beispielsweise ein naher Angehöriger, der Unterstützung braucht, wird es einfach zuviel."

Um auszubrennen, muss
man erst mal brennen

Aber wie kann man erkrankten oder gefährdeten Menschen am Arbeitsplatz helfen? Mehr Betriebspsychologen in Unternehmen? Sollten Coachings angeboten, auf Sensibilisierung geschult werden? Oder sollten Angestellte rechtzeitig für eine gewisse Zeit in eine Erholungs- oder Reflexionspause gesteckt werden, bevor sie einknicken? "Das kommt immer auf den Arbeitsplatz an, da kann man natürlich viel machen", sagt Psota. Für den Experten gibt es jedoch ein viel grundlegenderes Problem "Es muss zuallererst einen ganz anderen Diskurs über psychische Erkrankungen geben. Offener und ungezwungener. Dann würden sich diese Menschen auch trauen, sich selbst oder ihrer sozialen Umgebung einzugestehen, was los ist."

Eine Tabuisierung der Thematik und falsche Vorstellungen und Ängste über psychische Erkrankungen führen oft dazu, dass Betroffene sich nicht mitteilen oder Hilfe suchen. Sei es die Chefsekretärin, die unter dem immer weiter wachsenden Arbeitsdruck auf einmal am Schreibtisch zu weinen beginnt. Sie sagt sich dann aber selbst, dass sie sich nicht so anstellen solle. Oder die Bürokauffrau, die weiß, dass sie zu starken Depressionen neigt, aber nicht zum Arzt geht. Sie hat Angst, mit Medikamenten "vollgestopft" zu werden oder ihren Job zu verlieren.

Oder der Programmierer, der in der Früh Angst vor dem Aufstehen hat, weil er fürchtet, das nächste Projekt nicht bewältigen zu können. Aber er will nicht als unzuverlässig dastehen oder seine Kollegen hängen lassen. "Manche Betroffenen getrauen sich nicht einmal, mit ihrer engsten Umgebung darüber zu sprechen, wie miserabel es ihnen psychisch geht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf", gibt Psota zu bedenken. "Wir müssen diese Sprachlosigkeit beenden", appelliert der Experte.

Auch Psychiater Andreas Walter betont, wie wichtig es ist, Hilfe zu suchen. "Neben Psychotherapeut und Psychiater gibt es auch viele niederschwellige Angebote wie die psychosozialen Dienste der Stadt Wien. Auch die Kenntnisse der Allgemeinmediziner sollten nicht mehr unterschätzt werden", gibt er zu bedenken. Aber selbst dann fördert der derzeitige gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen Scham. Beispielsweise wechseln Patienten die Straßenseite, wenn sie ihrem Psychiater begegnen. "So weit wie in den USA, dass man seinen Psychiater Freunden vorstellen würde, träfe man ihn in einer Bar, sind wir noch lange nicht", meint Walter.