Ein Bildersturm tobt im Netz. 360 Millionen Fotos werden jeden Tag auf Facebook hochgeladen, hinzu kommen noch einmal 80 Millionen auf dem Foto-Dienst Instagram, den Facebook 2012 für eine Milliarde Dollar übernommen hat. Noch nie zuvor hat die Menschheit so viele Bilder publiziert, sich so exponiert.

Der Mensch ist seit jeher von der Idee beseelt, der Nachwelt bildhafte Zeugnisse zu hinterlassen. Vor 15.000 Jahren schufen Steinzeitmenschen die eindrucksvollen Höhlenmalereien von Lascaux, von denen Pablo Picasso bei einem Besuch gesagt hat: "Wir haben nichts dazugelernt." Die Speicher- und Trägermedien - Felsmalereien, Papyrusrollen, Buchdruck, Fotografie, Filmbänder - mögen sich über die Jahrtausende geändert haben. Doch die Darstellungsformen sind erstaunlich ähnlich geblieben.

Der US-Fotokünstler Trevor Paglen hat in einem Beitrag für das Magazin "The New Inquiry" geschrieben, dass sich mit dem Siegeszug der Digitalisierung etwas Dramatisches gewandelt habe. "Die visuelle Kultur hat ihre Form verändert. Sie ist entkoppelt vom menschlichen Auge und größtenteils unsichtbar geworden. Die überwältigende Mehrheit der Bilder wird heute von Maschinen für andere Maschinen gemacht; der Mensch spielt kaum noch eine Rolle." Das Revolutionäre an den digitalen Bildern sei die Tatsache, dass sie maschinenlesbar werden. Sie können vom Menschen nur unter bestimmten Umständen und nur für kurze Perioden eingesehen werden. Jedes Foto, das man schießt, landet irgendwo in den Serverfarmen der Tech-Konzerne, wo es von Algorithmen ausgelesen wird - ein Prozess, der dem menschlichen Betrachter gänzlich unsichtbar bleibt. Obwohl auch der Fotofilm durch einen chemischen Prozess entwickelt und in eine für Menschen sichtbare Form gebracht werden muss, sind die Negative weder vom Menschen noch einer Maschine lesbar.

Jedes Bild wird vermessen

Wenn man die "Chronik" eines Facebook-Freunds aufruft, kommt es mitunter vor, dass während der Ladezeit eines Fotos für einen kurzen Moment ein Satz in dem Foto-Feld erscheint. Zum Beispiel: "Bild zeigt drei Personen, die lachen, im Freien." Diese Information, die mehr an Facebooks Algorithmen als an seine Nutzer adressiert ist, gibt unfreiwillig Auskunft über Facebooks Gesichtserkennungssystem. Ein Blick ins Innerste des Maschinenraums. Jedes Foto, das wir in dem sozialen Netzwerk hochladen, wird von einer Maschine analysiert. Eine Software vermisst typische biometrische Merkmale im Gesicht, geometrische Abstände und erstellt aus den Bildwerten ein Binärmuster. Für Facebook sind menschliche Gesichter nur eine Aneinanderreihung von Pixeln, die man in Codes schreibt.

Die Bilderkennungsverfahren sind nicht auf Facebook beschränkt. Auch an Flughäfen, Autobahnen und öffentlichen Plätzen identifizieren Gesichtserkennungssysteme menschliche Gesichter und gleichen sie mit Datenbanken ab. Es entstehen ganz neue Bilderwelten.

Paglen stellt die These der Kontemplation, wonach Menschen auf Bilder schauen und der die Beziehung zwischen dem menschlichen Betrachter und den Bildnissen der wichtigste Analysegegenstand sei, in Frage. Seine ebenso simple wie verblüffende These lautet: Wir schauen nicht länger auf Bilder - die Bilder schauen auf uns. Das ist ein frappierender Perspektivwechsel, der eine Reihe kulturtheoretischer Prämissen auf den Kopf stellt.

Da ist ja nicht nur das Foto, das für sich steht und eine Geschichte erzählt. Hinter jedem Foto steckt eine gewaltige Maschinerie, die jeden Bildpunkt in seine Einzelteile zerlegt. Computer-Vision-Systeme produzieren mathematische Abstraktionen von Bildern, die sie analysieren. Das führt zuweilen zu groben Rastern und Fehlinterpretationen. Im Sommer 2015 fiel dem schwarzen Programmierer Jack Alciné ein Fotoalbum von ihm und seiner Freundin auf, das die Google-App "Photos" automatisch mit Gorillas überschrieben hatte. Die Foto-App setzte einen Menschen mit einem Gorilla gleich. Vielleicht liegt in diesen unsichtbaren Filtern auch ein ideologischer Trick verborgen, dem Nutzer ein wie auch immer geartetes Weltbild aufzuoktroyieren. Jedenfalls gewinnt die Maschine die Deutungshoheit über Bilder. Wir werden nicht mehr durch Fotoalben, sondern durch mathematische Formeln erzählt. Bilder verlieren ihre Unschuld, wenn Algorithmen eine stillende Mutter identifizieren und dies als Verstoß gegen Nacktheit geißeln. Damit einher geht auch ein Verlust an Souveränität.

Romneys Demütigung

Bilder verlieren gleichsam jede Form von Ästhetik und Ambivalenz, wenn ein Algorithmus die Interpretation gleich mitliefert. Als ein Foto von einem Dinner mit Donald Trump und dem 2012 gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney - Letzterer hatte den President elect im Wahlkampf rüde kritisiert - im Internet die Runde machte, ließ ein Twitter-Nutzer das Bild durch Microsofts Emotionserkennungs-Algorithmus laufen. Ergebnis: Romneys gequältes Lächeln hatte einen Happiness-Faktor von 0,089, Trumps maliziöses Grinsen wertete die Maschine mit 0,998 als Ausdruck vollkommenen Glücks. So sehen Maschinen den Menschen. Die Mehrdeutigkeit des Fotos - Romneys devote Haltung, Trumps vulgärer Gestus - wird völlig ausgeblendet. Die Textur ist eine völlig andere; das Narrativ simplifiziert. Die Wahrheit liegt in den Metadaten.