Ein Wischen nach links oder rechts, dann ist die Entscheidung getroffen. Zuneigung oder Abneigung. Interesse oder Desinteresse. Die Online-Dating-App "Tinder" ist in aller Munde und sie zeigt nicht nur wie sich das Anbahnen von Beziehungen verändert hat, sondern gibt auch Aufschlüsse über das moderne Kommunikationsverhalten in digitalen Zeiten.
Die diesjährige Republica in Berlin, einer mehrtägigen Diskussionsveranstaltung rund um die Themen die das Internet bewegen, steht heuer unter dem Motto "Love out loud" und beschäftigt sich in mehreren Diskussionen um die Frage der "Tinderisierung" der digitalen Gesellschaft. Doch nicht nur kritische Stimmen meldeten sich zu Wort, die digitale sexuelle Revolution steht vor der Türe und eröffnet ungeahnte Perspektiven.
Es regiert die Oberflächlichkeit - oder nicht?
Kritiker beklagen bei aktuellen Dating-Apps die Oberflächlichkeit. Der erste Eindruck entscheidet, nicht die Person dahinter. Wer sich besser verkaufen kann, hat auch die größten Chancen auf einen Erfolg bei der Partnersuche. Dieser Sichtweise halten die Befürworter entgegen, dass dies in einer Bar oder einer Disco in analogen Zeiten auch nie anders war und ist. Allerdings, und da ist man sich doch einig, die Ausstrahlung, den Geruch einer Person oder die Stimme, all dies kann man bei Dating-Apps nie erleben – dafür muss man sich dann in der Realität treffen.
Erste Untersuchungen zeigen zudem, dass Tinder und Co. nicht gerade förderlich für Beziehungsfähigkeit sind. Schon der Auswahlprozess selbst, das Wischen und Ausgewählt werden, würde eine Form von Sucht auslösen. Einen Dopaminrausch wenn sich ein Treffer ergibt. In "Love and Intimacy in Virtual Reality", so der Titel des Vortrags, erklärte Carl Guyenette, wie das Wischen an sich schon eine gewisse Erregung auslösen würde, die dann aber immer höhere Dosen benötigt um auf einen Level zu bleiben.
Man ist stets am Wischen, um Erfolg zu haben, die Illusion von "Geliebtwerden" und "Gefundenwerden". Zudem ist jedes Treffen auf seine Art und Weise, ob positiv oder negativ, einzigartig. Selten werden dabei Alltagsprobleme diskutiert, die aber das "normale" Beziehungsleben durchaus beeinflussen. Dies führe dazu, so die ersten Studien, dass der "Bindungswille" weniger wird. Läuft es in einer Beziehung nicht mehr gut, so geht man schneller wieder auf die Suche in den Apps, anstatt zu versuchen Probleme zu besprechen und zu lösen. Auch dies ist allerdings wahrlich keine Eigenart der digitalen Welt.
Orgasmen werden oberflächlicher und weniger intensiv
Die einfache Verfügbarkeit von Pornografie hat allerdings noch andere Nebenwirkungen. "Zahlreiche Studien zeigen, dass Männer durch das häufigere Masturbieren eine gewisse Überreiztheit zeigen, die dazu führt, dass man ohne härtere Stimulation und Pornos mit realen Personen schwerer zum Orgasmus kommt und zudem die sexuellen Fantasien abnehmen", so Maya Ofir Magnat in ihrem Vortrag mit dem Titel "F*cking technology! Making love with machines". Bei Frauen ist zwar weniger die Fantasie, wohl aber das Empfinden durch den Einsatz von Sextoys ebenso beeinträchtigt.
Über sich hinweg befriedigen, als menschliche Art mit dem Überangebot an virtueller Pornografie umzugehen? Eine interessante Debatte, die gerade erst von Sexologen aufgerollt und untersucht wird. Nicht mehr nur die Vorstellungen bezüglich des Ablaufes eines sexuellen Aktes, die Dominanz und Übergriffigkeit der Männer und der Abwertung der Frau als Objekt sind Thema, sondern auch die Abstumpfung und somit eine Orgasmusunfähigkeit mit realen Partnern.
Der Schutz der eigenen Daten
Doch steckt dahinter noch eine weitere Dimension, die von vielen Anwendern nicht gesehen wird – der enorme Datenhunger dieser Apps und das Dauerthema Datenschutz. In seinen Nutzungsbedingungen sieht Tinder, das zum großen Netzwerk von match.com gehört, vor, dass auch Inhalte von privaten Chats gespeichert und ausgewertet werden dürfen. Jedes Wischen füttert Algorithmen, die ihrerseits nicht immer nur den perfekten Partnertreffen bringen sollen, sondern auch andere Daten abgreifen. Wann werden Apps geöffnet und genutzt oder auch wie lange, sind dabei nur kleinere Beispiele. Sobald Daten miteinander verknüpft werden, ergeben sich weitere, weit spannendere Aspekte.
Digitales Liebesleben
Man stelle sich etwa vor, eine Online-Dating-App-Nutzerin verwendet auch einen Periodentracker. Diese App sammelt Daten über Eisprung, Körpertemperatur, Stimmungslage oder auch Häufigkeit oder Intensität von Geschlechtsakten. Wenn nun diese Daten mit anderen Apps die gesammelten Informationen austauschen, dann ergibt sich daraus ein umfassendes Bild intimer Landkarten der Benutzer.
Und dann kommt noch das so genannte "Internet der Dinge". Dies meint, dass an sich wenig kluge Utensilien des Alltags mit dem Internetprotokoll mit anderen Endgeräten, Apps oder Personen kommunizieren können. Digitale Sextoys, etwa über Apps steuerbare Vibratoren, würden hier ein weiteres Puzzlesteinchen im Gesamtportrait der Anwenderin liefern. Mit dem Produkt "iCon", soll es nun auch erstmals ein "intelligentes Kondom" geben – Kostenpunkt rund 70 Euro. Zum einen ist nicht das Kondom selbst intelligent, sondern vielmehr eine Art vernetzter Penisring der über das Kondom gestreift wird und zum anderen ist nicht klar, ob es dieses Produkt denn nun schon wirklich gibt. Es kann derzeit nur unverbindlich vorbestellt werden. Interessant daran ist, was die Entwickler alles versprechen: iCon misst die Dauer des Aktes, die Geschwindigkeit, den Kalorienverbrauch und soll zudem Auskunft über Geschlechtskrankheiten geben. All dies kann auch über soziale Netzwerke geteilt oder aber über eine App ausgewertet werden. Ob es sich dabei um einen Scherz (im Englischen steht "Con" auch für Scherz), oder aber wirklich um ein weiteres Tool zur Selbstoptimierung handelt, wird sich noch herausstellen.
Die digitale sexuelle Revolution
Fakt ist allerdings, dass auch die Liebe nicht von der Digitalisierung verschont geblieben ist. Mit einer Datenbrille auf dem Kopf und verdrahteten Endgeräten an diversen Körperstellen soll es in Zukunft auch in der virtuellen Realität neue Erfahrungen geben. Brille auf und man ist nicht nur mittendrin im Geschehen, sondern kann sich auch einen perfekten Körper wünschen, oder aber in andere Geschlechter oder Personen schlüpfen. Auch wenn Vieles vielleicht pessimistisch klingt, so ist es doch in der Realität auch eine große Chance, die sich aufgrund neuer Technologien, Innovationen und Endgeräten ergibt. Die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt, die Frage ist nur, wie weit können alle diese Dinge ein reales Gegenüber ersetzen und wollen sie das überhaupt? Oder ist es nur eine logische Erweiterung der analogen Realität?
In der virtuellen Realität kann man seinen Körper neu und anders wahrnehmen. Einmal Frau oder Mann oder gar dazwischen oder darüber hinaus. Große oder kleine Oberweite, auch als Mann oder einen perfekten Sixpack – es gibt Nichts was es nicht geben wird.
Ohne Zweifel bedarf es immer noch großer Aufklärungsinitiativen. Gerade junge Frauen sind, so zeigen aktuelle Studien, weit weg von ihrem Körper. Auch hier könnte die virtuelle Realität helfen. Mit Sexologen entwickelte Anwendungen würden hier einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der eigenen Geschlechtsorgane und Sexualität ermöglichen. "Eine 13-jährige hat in einer Stunde einmal gesagt, dass sie so viel über Masturbation gehört habe, aber nicht wisse, ob man dafür eigentlich nackt sein müsse, oder nicht", so Maryant Fernández, Senior Policy Advisor der European Digital Rights (EDRi) bei ihrem Vortrag mit dem Titel "Safer (Digital) Sex: Pleasure is just a click away", wobei es nicht um Virenschutz statt Kondom ging, sondern um die Frage von Datenschutz bei Apps und Sicherheitsgefahren durch das Internet der Dinge bei Sexspielzeug.
Für Carl Guyenette liegt allerdings die größte Entwicklung noch vor uns - eine digitale sexuelle Revolution, die die Befreiung von zeitlichen und räumlichen Grenzen ebenso mit sich bringt, wie die Abkehr klassischer Geschlechterrollen und dem aktuellen sexuellen Weltbild in der Gesellschaft.