Wien. Alles ist möglich. Ob Schurke oder Held, Elfe oder Ork, Heiler oder Krieger: In Computer-Rollenspielen kann der Spieler in unzählige Rollen schlüpfen. Er entscheidet, wie muskulös, attraktiv und gewieft sein Avatar ist. Doch nicht nur das Aussehen der Figur ist formbar. In vielen Titeln kann er mit seinen Handlungen auch die Spielwelt und den Spielverlauf beeinflussen. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Sozialpädagogen und Computerspieleforscher Martin Geisler darüber, wie der Avatar mit der Identität des Spielers verknüpft ist.

"Wiener Zeitung": Herr Geisler, nach welchen Kriterien wählt der Spieler seinen Avatar aus?
Martin Geisler: Einen Avatar baue ich nicht völlig losgelöst von mir selbst zusammen. In der Figur stecken immer - bewusst oder unbewusst - Sehnsüchte, Bedürfnisse und Identitätsentwürfe. Beim Bau des Avatars gibt es daher viele Möglichkeiten. Ein wichtiges Kriterium ist dabei, wie gefestigt die Identität des Spielers bereits ist oder wie gern er damit experimentiert. So gibt es Menschen, die mit ihrem Aussehen und Habitus zufrieden sind und Spaß daran haben, dieses reale Ich ins Virtuelle zu übertragen. Sie wollen mit sich selbst in der virtuellen Welt operieren.

Also bauen sie Figuren, die ihnen ähnlich schauen?
Ja. Es kann aber auch sein, dass Spieler sich selbst gestalten, weil ihnen sonst nichts einfällt. Sie sind eingeengt und sehen keinen kreativen Spielraum.

Wie gehen experimentierfreudigere Spieler vor?
Sie wollen bewusst etwas Neues machen: etwa der schlanke, große Typ, der einen dicken Zwerg auswählt. Noch radikaler ist der Geschlechtertausch, wenn jemand also eine Figur mit einem anderen Geschlecht auswählt.
Was hat das für Gründe?
Es gibt verschiedene Motive. Nehmen wir eine Frau, die einen männlichen Avatar gewählt hat. Das kann daran liegen, dass sie genervt davon ist, ständig angemacht zu werden, wenn sie als attraktive Frau herumrennt. Spielt sie einen Muskelprotz, passiert ihr das deutlich seltener.
Und was ist bei dem Mann, der eine Frau spielt?
Das kommt öfters vor. Es kann schlicht ein optischer Anreiz sein. Jemand, der dutzende Stunden in einem Spiel verbringt, kann einfach Lust daran haben, eine attraktive Figur in der 3D-Perspektive anzusehen. Für andere ist es interessant, mal selbst zu erleben, wie es als scheinbare Frau ist, angemacht zu werden. Das passiert aber eher zufällig. Nur sehr wenige Spieler wollen bewusst Reaktionen auf ihre weibliche Spielfigur haben.
Kann ein solch radikaler Rollentausch auf eine Unzufriedenheit mit dem realen Ich hindeuten?
Es gibt beide Radikale: Personen, die mit sich selbst in einer Krise sind, werden andere Charaktere als sich selbst bauen. Das trifft aber auch auf Menschen zu, die spielerisch mit sich selbst umgehen. Gerade experimentierfreudige Personen können sehr gefestigt sein. Das haben wir auch bei Workshops mit Nicht-Computerspielern gesehen: Dort zeigte sich: Je kreativer eine Person ist, umso mehr weicht sie von sich selbst ab und lässt Experimente zu. Und das waren keineswegs labile Personen.
Neben dem Aussehen können Spieler mit ihren Handlungen auch den Spielverlauf beeinflussen. Was haben Sie da herausgefunden?
Beim ersten Durchspielen eines Titels versuchen die meisten Menschen gerne, ethisch vorbildlich und gut zu agieren. Beim zweiten Durchspielen aber bröckelt die Oberfläche. Das Spiel wird als Raum der Möglichkeiten gesehen. Die Spieler fragen sich: "Wie ist es denn, anders zu sein?"
Die Abenteuerlust setzt ein?
Genau. Das zeigt sich auch bei der Auswahl des Avatars. Beim zweiten Mal zeigt sich immer eine Veränderung. Wer etwa beim ersten Mal eine Figur gewählt hat, die ihm ähnlich schaut, wählt beim zweiten Mal eine Figur, die von ihm abweicht und umgekehrt.
Bisher haben wir über Rollenspiele gesprochen. Strategiespiele sind anders gestrickt: Hier kontrolliert der Spieler keinen einzelnen Avatar. Zumeist steuert er aus der Vogelperspektive die Geschicke einer Nation und schickt Armeen herum. Wie funktioniert bei solchen Spielen die Identitätsfindung?
Die meisten Strategiespiele finden in einer Welt statt, auf die der Spieler von außen drauf schaut. Die persönliche Identifikation mit einer einzigen Spielfigur ist optisch gar nicht vorhanden. Bei diesen Titeln fühlt sich der Spieler auf einer Metaebene wirksam. Er sieht sich als Feldherr oder gar als Gott. Das ist aber ein Identifikationsprozess, der sich von normalen Strategie-Brettspiele nicht sehr unterscheidet.
Kann dieses Machtgefühl zum Problem werden?
Spiele bieten emotionale Selbstmedikation: Wenn ich fühle, in meiner Alltagswelt nicht wirksam zu sein, von anderen nicht anerkannt zu werden, kann ich das im Spiel vielleicht kompensieren. Das ist bis zu einem gewissen Bereich grundsätzlich unproblematisch. Wenn es aber pathologisch wird, sich der Spieler aus der Alltagswelt zurückzieht, weil er sich gerade im Spiel so mächtig fühlt: Dann rutscht es unter Umständen ins Ungesunde.