Selten waren Begeisterung und Enttäuschung bei einem Videospiel derart vereint wie bei "Cyberpunk 2077". Der polnische Entwickler CD Projekt Red erzählt in seinem neuesten Werk eine fantastische Geschichte. Trotz einiger technischer Mängel läuft der Titel auf dem PC solide und schaut umwerfend aus.
Das kann zu den Versionen für die Playstation 4 und die Xbox One nicht gesagt werden. Sie leiden unter haarsträubenden Fehlern wie Abstürzen. Auch hinken sie der PC-Version grafisch um Meilen hinterher. Verwaschene Texturen und fehlerhafte Animationen trüben den Spielspaß massiv. Fans zeigen sich enttäuscht. CD Projekt Red entschuldigte sich für den Zustand des Spiels und gelobt Besserung. "Wir ärgern uns natürlich über jeden Bug - und arbeiten hier auch schon an Lösungen", heißt es in einer Stellungnahme.

Abseits des Fehlerfiaskos ist die Handlung von "Cyberpunk 2077" fein durchdacht. Nach der "The Witcher"-Reihe gelang es CD Projekt Red erneut, eine glaubwürdige Spielwelt zu erschaffen. In Night City regiert im Jahr 2077 ein Konglomerat aus finsteren Firmen, Kriminalität und Korruption durchfluten die Stadt. Die Menschen suchen Zuflucht in der Technik. Immer mehr Organe werden zwecks Selbstoptimierung durch technische Geräte ersetzt.
Entwickler Philipp Weber von CD Projekt Red hat mit der "Wiener Zeitung" über die Entstehung des Spiels gesprochen - und darüber, von wem sich das Studio inspirieren hat lassen.
"Wiener Zeitung":Seit Jahren ist "Cyberpunk 2077" eines der meisterwarteten Spiele. Wie lange wurde es jetzt unterm Strich entwickelt? Die erste Ankündigung war 2013.
Philipp Weber: Das war damals primär ein Signal, um das Interesse von Entwicklern zu wecken, sich uns anzuschließen. Ein kleines Team hat zwar begonnen, Vorarbeit zu leisten, aber richtig losgegangen ist es vor vier Jahren - 2016.
Wie groß ist die Gefahr, bei so viel Zeit ein Spiel zu Tode zu entwickeln - etwa, weil auf einmal alles in Frage gestellt wird oder man ab einem gewissen Punkt beginnt, das Spiel zu verschlimmbessern?
Die Gefahr ist groß. Grundsätzlich können kreative Menschen ein Spiel ewig weiterentwickeln. Auch wir sind an so einen Punkt angelangt. 2019 haben wir einen Handlungsstrang von "Cyberpunk" neu aufgesetzt, weil wir in einer Sackgasse gelandet sind. Dann ist es gut, wenn von oben gesagt wird: "OK, das Spiel muss jetzt einmal rauskommen." Das erzwingt finale Entscheidungen.
Kommt es nicht zwangsläufig zu einem Schlendrian, vor allem zu Beginn, wenn man weiß, dass man sehr viel Zeit hat?
Am Anfang wollen wir natürlich offen sein und Zeit haben, unsere Köpfe freizubekommen. Ich persönlich hatte zu Beginn eine große Liste an Büchern, Filmen und Spielen, die im Genre von "Cyberpunk" Eindruck gemacht haben. So habe ich beispielsweise die Neuromancer-Trilogie von William Gibson gelesen. Diese Freiheit und dieses Wohlgefühl sind nötig, um später fokussiert arbeiten zu können. Die ersten Jahre sind mehr die Experimentierphase. Das tatsächliche Spiel wird danach gemacht, sobald man weiß, wie man sich in dieser Welt und der ganzen Technik zurechtfindet.
Wie zieht man die Grenze zwischen der freien kreativen Phase und der handwerklichen Phase?
Dafür gibt es den Produzenten. Der erstellt die Zeitlinie. Er kann abschätzen, wie lange bestimmte Vorgänge dauern, er gibt die Deadlines für einzelne Zwischenstationen vor und treibt dann auch die Mannschaft an.
Und da ist dann alles auf Schiene?
Ein Spiel, das so groß und so komplex wie "Cyberpunk" ist, kann man nie von Anfang an perfekt planen. Da muss es zu Unvorhergesehenem und Komplikationen kommen. Aber daraus lernt man dann auch wieder.
Wie schätzen Sie generell die Situation am Spielemarkt ein: Gibt es ausreichend gute Geschichten?
Die Geschichten werden immer besser. Heute kommen mehr Spiele heraus, die die Stärken des Videospiels nutzen und das ist seine Interaktivität. Ein weiterer Grund für bessere Geschichten ist, dass Themen für Erwachsene gut behandelt werden können.
Inwiefern?
Die Vorstellung, dass Computerspiele nur etwas für Kinder sind, war schon vor 20 Jahren veraltet. Tatsächlich sind Computerspiele wie Bücher und Filme etwas für alle Altersklassen. Spiele für Erwachsene: Das ist nicht einfach nur "Freigabe ab 18", weil da Gewalt und Sex vorkommen, sondern weil Themen beleuchtet werden, die man als Erwachsener interessant findet und darüber nachdenkt. Berühmte Spiele wie "The Last of Us" sind tatsächlich für Erwachsene. Als Designer von Rollenspielen habe ich beispielsweise "Disco Elysium" sehr gut gefunden, das vor einem Jahr erschienen ist. Der größte Teil des Spiels besteht aus Gesprächen über philosophische Strukturen. Und obwohl das Spiel tiefgründige Themen behandelt, hat es extrem viel Humor und macht Spaß. So etwas haben wir seinerzeit auch mit "The Witcher: Wild Hunt" versucht und versuchen es jetzt mit "Cyberpunk 2077".
Gute Geschichten leben von guten Charakteren. Wie gehen Sie bei der Erschaffung der Persönlichkeiten vor? Sowohl "The Witcher" als auch "Cyberpunk" haben ja Charaktere mit Ecken und Kanten.
Wir überlegen uns zu Beginn die Stärken und Schwächen eines Charakters. Wir spinnen seine Vergangenheit. Dem Spieler erzählen wir aber aktiv nichts davon. Die Sache ist: Wenn wir wissen, was der Charakter durchgemacht hat, und seine Stärken und Schwächen kennen, wirkt sich das auf die Qualität der Dialoge, die wir schreiben, aus. Der Spieler merkt unterbewusst, dass der Charakter von seiner Perspektive aus kohärent handelt. Wir wollen keine klischeehaften Comicbuch-Charaktere. Auch wenn ein Charakter ins negative Licht rückt, wollen wir zeigen, dass es ein Mensch ist, mit dem man mitfühlen kann.
"The Witcher" wartet an vielen Stellen mit politischer Unkorrektheit auf. Wie sieht das bei der Entstehung aus? Schaffen Sie einen Charakter und nehmen keine Rücksicht darauf, oder gibt es da doch interne Vorgaben?
Beides. Es gibt schlimme Themen in dieser Welt und das sind Themen, die wir ansprechen. Es ist aber ein Unterschied, ob das ein Neben- oder der Spielcharakter ist. Wenn wir Letzteren rassistische Sachen sagen lassen würden, wäre das ein Problem, würde aber ohnedies nicht zu seinem Charakter passen. Aber er kann Freunde haben, die etwas Rassistisches oder Sexistisches sagen, weil Leute in so einer Welt so sprechen. Es liegt an uns, das in einen Kontext zu bringen. Schließlich wollen wir nicht, dass es heißt: "The Witcher" glorifiziert Rassismus. Wir wollen zeigen, dass es diese Themen gibt, und wir wollen sie ernst nehmen. Das tun wir, indem wir ernste Geschichten erzählen und sie der Spieler bestenfalls für sich selbst interpretieren kann. Wir wollen so etwas nicht unterstützen, wollen uns aber nicht davor verstecken. Die sind Teil dieser Welt.
CD Projekt Red ist fast ausschließlich für seine "Witcher"-Reihe bekannt. Wurde "Cyberpunk" geschaffen, damit sich die Hexergeschichte nicht totläuft, oder wollte man proaktiv eine neue Reihe starten?
Wir hatten Lust auf etwas Neues. Das Studio hat seit 2002 die "Witcher"-Spiele gemacht. Es gab den Punkt, wo man etwas anderes entdecken und sich einen Kreativitätsschub geben konnte. Viele im Studio waren Fans des Pen-and-Paper-Rollenspiels "Cyberpunk" von Mike Pondsmith. Das wollten wir mit den Stärken von "The Witcher" kombinieren, also etwa die Erzählung von erwachsenen Geschichten.
Arbeitet CD Projekt Red eigentlich schon am nächsten Titel?
Darüber kann ich noch nicht reden. Wir wollen natürlich nicht stillstehen und machen uns Gedanken über das, was kommen mag. Unser Fokus liegt jetzt auf "Cyberpunk" und darauf, es noch eine Zeit lang zu unterstützen. Dazu gehört, auf die Fans zu hören und das Spiel anzupassen und zu reparieren.