Wer große Hoffnungen schürt, kann umso größere Enttäuschung ernten. Davon kann der polnische Videospielentwickler CD Projekt Red ein Lied singen. Jahrelang hatte er den Hype um sein neues Action-Rollenspiel "Cyberpunk 2077" angefacht. Seit der Veröffentlichung am 10. Dezember vergeht nun aber kaum ein Tag, an dem die Polen nicht mit Negativschlagzeilen zu kämpfen haben.

Allmächtige Konzerne, korrupte Politiker, Polizisten und Gangs haben "Night City" unter sich aufgeteilt. - © CD Projekt Red
Allmächtige Konzerne, korrupte Politiker, Polizisten und Gangs haben "Night City" unter sich aufgeteilt. - © CD Projekt Red

Vor allem auf den Konsolen Playstation 4 und Xbox One strotzt "Cyberpunk 2077" vor gravierenden Technikfehlern, oft stürzt das Spiel ab. Hinzu kommt, dass es in Trailern als grafische Perle präsentiert wurde. Das gilt aber nur für die PC-Version. Auf der PS4 und Xbox One spielt "Cyberpunk 2077" grafisch nur in der Zweiten Liga mit. Und als wäre das nicht genug, tauchten auch noch Warnungen auf, dass manche Spielpassagen epileptische Anfälle auslösen könnten.

Die Nutzerbeschwerden führten dazu, dass Sony das Spiel aus seinem Online-Einkaufsmarkt entfernte. Mit Aktualisierungen haben die Polen die Grafik zwar verbessern und einige Probleme entschärfen können, deutliche Mängel bleiben aber. Weiteres Ungemach droht: Sammelklagen gegen CD Projekt Red werden derzeit geprüft, der Vorwurf der Spielertäuschung steht im Raum.

Teuflische Gedanken

Das Technikfiasko und die unzähligen Negativmeldungen überdecken: In "Cyberpunk 2077" steckt im Kern ein sehr gutes Spiel - auch wenn es nicht an das hervorragende "The Witcher 3: Wild Hunt", das Vorgängerwerk von CD Projekt Red, heranreicht.

Die größte Stärke von "Cyberpunk 2077" liegt in der frischen und fetzigen Handlung, die immer wieder überrascht. Schauplatz ist die Metropole "Night City", die allmächtige Konzerne, korrupte Politiker, Polizisten und Gangs unter sich aufgeteilt haben. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist enorm, Selbstoptimierung das Gebot der Stunde: Es scheint keine Organe und Fähigkeiten zu geben, die nicht mittels Implantaten aufgewertet werden können. Manche Personen ähneln mehr Maschinen als Menschen.

Durch diese Welt schlägt sich Hauptcharakter "V". Durch widrige Umstände landet ein besonderes Implantat in "V", wodurch sich ein gewisser Johnny Silverhand (gespielt von Hollywood-Star Keanue Reeves) in seinen Gedanken einnistet. Er wird zu "Vs" ständigem Begleiter und erinnert dabei ein wenig an einen kleinen Teufel, der "V" ständig auf böse Gedanken bringt.

Die Wortgefechte und Konversationen im Spiel sind flott und humorvoll und heben sich von den oft plumpen Dialogen anderer Videospiele ab. Nicht nur die Hauptgeschichte kann überzeugen, die Spielwelt wartet meist mit abwechslungsreichen Nebenmissionen auf. Mal muss geklärt werden, ob die Ermordung eines Bürgermeisters das Werk eines verwirrten Einzeltäters oder doch eine Verschwörung war. Ein anderes Mal hilft "V" einem Taxibetrieb, dessen selbstfahrende Limousinen verrückt spielen: Unversehens landet er in philosophischen Überlegungen über das Leben künstlicher Intelligenz.

All diese Erzählungen spielen in einer beeindruckenden Umgebung. Ausgeflippte Neon-Werbungen, schräge Charaktere, bunte Straßenmärkte und Gangs prägen das Stadtbild.

Allerdings wird diese Atmosphäre derzeit durch gravierende technische Mängel getrübt. So versinken Autos und Charaktere manchmal sprichwörtlich im Boden. Animationen laden gar nicht oder zu spät: So blasen Spielfiguren manchmal den Rauch von gar nicht existierenden Zigaretten von sich weg. Seltsam ist auch, dass manche Straßen und Umgebungen im Zentrum der Metropole am Abend oft menschenleer sind: Das raubt der Spielwelt einiges an Realismus.

Ungeschickte Gegner

Zu den technischen Schwächen gesellen sich spielerische Mängel. Ärgerlich ist, dass sich die Gegner bei den Kämpfen ungeschickt anstellen. Statt wie in anderen Titeln den Spieler zu flankieren und einzukreisen, verharren sie steif in ihren Deckungen. Eine Herausforderung stellen sie für geübte Spieler nicht dar. Es bleibt zu hoffen, dass CD Projekt Red mit Updates mehr Schwung in die Kämpfe bringt.

Auch das wenig durchdachte Fahndungssystem, das an die "Grand Theft Auto"-Reihe angelehnt ist, bedarf einer Überarbeitung. So sucht zwar die Polizei nach "V", wenn er ein Verbrechen begeht - etwa, wenn er einen Passanten attackiert. Allerdings lässt sich die Polizei bereits durch ein kurzes Abbiegen um den nächsten Häuserblock auch schon wieder abhängen. Das erscheint etwas gar einfach.

Misst man "Cyberpunk 2077" an seinem Vorgängertitel "The Witcher 3", sieht man Licht und Schatten. "The Witcher 3" spielt sich als aufbauende Geschichte, in der nach und nach neue Schauplätze freigeschaltet werden. Verbunden sind diese mit originellen Nebenmissionen, die auch für die Haupthandlung wichtig und mit ihr verbunden sind. So erledigt der Spieler die Nebenmissionen, während er gleichzeitig auf die Folter gespannt wird, wie es in der Haupthandlung weitergeht. Im Ergebnis bietet "The Witcher 3: Wild Hunt" damit weit über 100 Stunden prächtiger Unterhaltung.

Der Aufbau bei "Cyberpunk" ist anders: Prolog, Hauptgeschichte und Finale. Die Spiellänge hängt deutlich stärker von der individuellen Ausgestaltung des Hauptteils ab. Denn die Nebenmissionen sind oft mehr Beiwerk als direkt mit der Haupthandlung verbunden. Man kann sie absolvieren, muss aber nicht. Erledigt man neben dem Hauptstrang nur die großen Nebenmissionen, ist man problemlos in 60 Stunden am Ende. Man kann das Spiel aber auch an die 100- oder 200-Stunden-Grenze führen, indem man alle Nebenmissionen erfüllt.

Das verschafft dem Spieler mehr Freiheiten. Allerdings sind einige der kleineren Nebenmission im Gegensatz zu "The Witcher" wenig originelle und sich ewig wiederholende Kleinaufträge: Nachdem man zum zehnten Mal den mehr oder weniger gleichen Diebstahlsauftrag erfüllt hat und zum gefühlt hundertsten Mal einen Cyber-Psychopathen neutralisiert hat, sinkt die Lust auf den nächsten Auftrag.

Wer über diese Schwächen hinwegsehen kann, bekommt mit "Cyberpunk 2077" ein Spiel, das mit einer der besten Handlungen der vergangenen Jahre aufwartet. PS4- und Xbox-One-Spieler müssen sich aber gedulden, bis CD Projekt Red die gravierenden Mängel ausmerzt und das Spiel wieder verfügbar ist.

"Dort, wo bei den meisten Entwicklerstudios Schluss ist, können wir noch ein halbes Jahr länger entwickeln", sagte Philipp Weber, ein Entwickler von "Cyberpunk 2077", noch kurz vor Release zur "Wiener Zeitung". Man sei nicht gezwungen, ein Spiel auf den Markt zu bringen, nur weil das Ende des Geschäftsjahres nahe. Es wäre zu wünschen gewesen, dass CD Projekt Red sich daran gehalten und das Spiel ohne gröbere Fehler veröffentlicht hätte. Doch waren der Verkaufsstart der Playstation 5 und das Weihnachtsgeschäft wohl ein zu wichtiger ökonomischer Faktor.

Das Testmuster wurde der "Wiener Zeitung" vom Hersteller zur Verfügung gestellt.