Belfast/Wien. In der warmen Jahreszeit warten die bunten Doppeldeckerbusse täglich im Stadtzentrum, um Besucher durch Belfast zu karren. Sie sollen die Stadt und ihre blutige Vergangenheit hautnah erleben. "Eine Geschichte des Terrors", wirbt ein Anbieter. Für rund 10 Euro werden die Touristen in die Arbeiterviertel gebracht, dorthin, wo der Union Jack weht und die Farben der irischen Flagge die Gehsteige zieren, wo riesige Wandmalereien vom alten Konflikt erzählen, mit Szenen von Straßenschlachten und überlebensgroßen Porträts paramilitärischer Helden.
Neben den "Game Of Thrones"-Touren und dem "Titanic"-Museum ist die Faszination des Grauens der "Troubles" das größte Touristenspektakel in Nordirland. Vorbei geht es an Polizeistationen, die an US-Militärbaracken in Afghanistan erinnern, umgeben von meterhohen Betonmauern, aufgestockt mit Stacheldraht, damit es schwieriger ist, Molotowcocktails hinüberzuwerfen.Sind die "Troubles" wirklich vorbei? Sieht so eine friedliche Gesellschaft aus? Nordirland ist noch immer tief gespalten. Mehr als 100 sogenannte Peacewalls gibt es in der britischen Provinz. Die Mauer trennt protestantisch-unionistische von katholisch-republikanischen Arbeitervierteln. Mehr als 90 Prozent der Nordiren leben in konfessionell getrennten Wohngebieten, nur 7 Prozent der Kinder besuchen gemischte Schulen. Auch Ehen zwischen Katholiken und Protestanten, in Irland und Großbritannien völlig normal, sind in Nordirland immer noch selten.
Tief gespalten
Mehr als 20 Jahre sind seit dem Karfreitagsabkommen vergangen, das drei Jahrzehnte Bürgerkrieg beendete. Zwar herrscht so etwas wie Frieden, doch die beiden Bevölkerungsgruppen leben nach wie vor nebeneinanderher - im besten Fall. In schlechten Momenten fliegen wieder Flaschen und Ziegelsteine über die Mauer oder es kommt zu Ausschreitungen, wenn Unionisten singend und trommelnd durch katholische Viertel ziehen oder die irische Flagge verbrennen.
Dieses Sektierertum endlich aufzubrechen, ein gemischtes Schulsystem einzuführen und dafür zu sorgen, dass die Menschen ihr Misstrauen ablegen und alte Feindschaften begraben, dazu gibt es keinen politischen Willen. Die beiden großen Parteien, die irisch-republikanische Sinn Féin und die protestantisch-unionistische DUP, betreiben in erster Linie Klientelpolitik. Andere, überkonfessionelle Parteien wie die Alliance Party dümpeln im einstelligen Bereich.
Das Karfreitagsabkommen von 1998 schreibt vor, dass Katholiken und Protestanten sich die Macht im nordirischen Parlament teilen. Doch Stormont steht seit zwei Jahren leer, weil sich DUP und Sinn Féin nach den Wahlen nicht einigen konnten. Auslöser der Blockade war ein Förderskandal um erneuerbare Energien, der die Steuerzahler rund 480 Millionen Pfund kostete und für den die Sinn Féin die DUP verantwortlich macht.
Der Bruch zwischen den beiden großen Parteien geht noch tiefer, denn die DUP wehrt sich mit aller Macht gegen jede Art von Besserstellung der Katholiken. So hat sich die Partei einer Aufwertung des Irischen zur Amtssprache erfolgreich in den Weg gestellt. Auf dem Spiel steht mehr als bloß zweisprachige Ortstafeln, denn der Streit um die irische Sprache reflektiert ein uraltes Thema.
Irisch oder britisch?
Immer noch lautet die große Frage: Irisch oder britisch? Es ist eine Entweder-oder-Frage, die wenigsten Nordiren fühlen sich als beides, auch die Idee einer nordirischen Identität entwickelt sich nur langsam. Auf den ersten Blick erkennt man die Zugehörigkeit der Menschen nicht, denn sie sprechen denselben schottisch klingenden Dialekt. Es gilt, die Symbole richtig zu lesen: Wer einem bestimmten Fußballverein folgt oder Gaelic Football spielt, wer Seamus heißt oder Aoife, ist wohl kein Brite. Wenn die Menschen im Frühling ihre Hemden hochkrempeln, blitzt nicht selten eine Mohnblume oder Rose auf einem Unterarm oder Handrücken hervor - eindeutige Symbole der Unionisten. Auch die Worte "Lest we forget" kommen häufig vor - ein Zitat aus Rudyard Kiplings Gedicht "Recessional", eine Ode an den britischen Imperialismus. Noch immer dreht sich hier viel um Symbole, Mythen und Übertreibung. Die Menschen sprechen die Sprache der Vergangenheit.
Nordirland hat keine eigene Fahne und Nationalhymne wie Schottland und Wales, es ist auch hier gespalten: In den katholischen Vierteln wehen irische Flaggen, jeder freie Quadratmeter ist in den drei Farben Grün-Weiß-Orange bemalt; in protestantischen Wohngegenden prangt überall der rot-weiß-blaue Union Jack. Unionisten vergleichen sich gern mit den Juden, im Nahost-Konflikt nehmen sie die Seite Israels ein.
Angst um Identität
In den Arbeitervierteln fühlen sich viele verlassen von der Politik. Sie haben das Gefühl, die Katholiken wollten ihnen ihre Kultur stehlen, sie unterdrücken. Sie schicken ihre Kinder in protestantische Schulen, damit sie mit der "richtigen" kulturellen Prägung aufwachsen. Die Angst vor dem Verlust der Identität schlägt einem überall entgegen. Vielen Protestanten macht auch die demografische Entwicklung Angst: Während die Katholiken 1971 gerade einmal 34 Prozent der Bevölkerung ausmachten, waren es bei der jüngsten Volkszählung 2011 schon 41 Prozent. Sie liegen damit nur noch knapp hinter den Protestanten (42). In wenigen Jahren, so die Prognosen, werden die Katholiken die Mehrheit bilden. Seit sie den Protestanten gleichgestellt sind, büßt die ehemalige Elite an Macht ein. Jahrhundertelang genossen die Nachfahren englischer und schottischer Siedler alle Privilegien: Sie bekamen Wohnungen und Jobs, die Katholiken waren Bürger zweiter Klasse.
Heute, 21 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, plagen beide Gruppen dieselben Sorgen: soziale Probleme, hohe Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung. Obwohl es vieles gibt, was die Menschen in Nordirland eint, wiegt schwerer, was sie trennt: ihre Identität. Nach wie vor werden jedes Jahr dutzende Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Ende 2018 verließen mehrere katholische Familien nach Todesdrohungen ein protestantisches Viertel. Auch zu Angriffen diverser paramilitärischer Gruppen sowie zu Ausschreitungen und Straßenschlachten kommt es immer wieder. Erst vor drei Wochen sprengte eine IRA-Splittergruppe in Derry ein Auto in die Luft.
Kann man sich mit dem bisher Erreichten zufriedengeben? Genügt die Abwesenheit von Krieg, um von Frieden zu sprechen? Immerhin haben die Nordiren sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Art fragiles Gleichgewicht erarbeitet. Der Brexit droht dieses nun zu kippen, denn der EU-Austritt nabelt die Katholiken in Nordirland von ihrer kulturellen und historischen Heimat ab.
Friede auf Widerruf
Die größte Ironie des ganzen Brexit-Prozesses ist, dass sich die Frage über die künftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs mit der EU ausgerechnet auf der kleinen Nachbarinsel Irland entscheidet. Beim "Backstop", der die Grenze zwischen Irland und Nordirland offenhält, steht die EU zum Mitgliedsland Irland. Brüssel, so scheint es, hat verstanden, wieso es in den Augen Dublins keine Kontrollen entlang dieser historisch sensiblen Grenze geben darf.
Denn es ist bloß ein Friede auf Widerruf, der in Nordirland herrscht. Der Hass ist über Generationen weitervererbt, der Konflikt ist kalt, aber nicht gelöst. Schnell, so wird befürchtet, könnten die Straßen in Belfast und Derry wieder brennen. Das Karfreitagsabkommen 1998 ist nur ein vorläufiger Schlusspunkt unter einem Konflikt, der deutliche Züge eines Bürgerkriegs trug. Mehr als 3500 Menschen kamen ums Leben, hunderttausende wurden traumatisiert. Die Erinnerung ist ein tiefer Graben, der quer durch die Gesellschaft geht.
Inspiriert von Martin Luther Kings friedlicher Bürgerrechtsbewegung gingen 1967 Katholiken und Protestanten gemeinsam auf die Straße, um gegen Ungerechtigkeiten zu protestieren. Doch mit den Gemeinsamkeiten war es bald vorbei. Am 12. August 1969 stürmten Protestanten in Derry den Stadtteil Bogside. Die katholische Bevölkerung verbarrikadierte sich, zwei lange Tage dauerten die Straßenschlachten. Um die Bedrängten in Bogside zu entlasten, solidarisierten sich die Menschen in anderen katholischen Arbeitervierteln. Die Unruhen griffen rasch auf Belfast über. Eine Handgranate explodierte in einer Polizeistation, dann kam die Royal Ulster Constabulary mit Maschinengewehren. Ein neunjähriger Bub wurde durch einen Querschläger getötet.
Massenhaft Vertreibungen
Was dann folgte, kam einen Inferno gleich. Ganze katholische Straßenzüge wurden von den Loyalisten niedergebrannt, und auf beiden Seiten wurden Familien aus ihren Häusern vertrieben. Die Katholiken traf es dabei schlimmer als die protestantische Mehrheit. Es entstanden jene Ghettos, wie wir sie heute kennen, Nordirlands Premier James Chichester-Clark von der Ulster Unionist Party rief die britische Armee zu Hilfe. Die sollte sich unparteiisch zwischen die verfeindeten Gruppen stellen, wurde von den Katholiken aber rasch als Feind wahrgenommen.
Zum Symbol des Wahnsinns, der sich in Nordirland breitmachte, wurde der "Bloody Sunday", der 30. Jänner 1972: Britische Fallschirmjäger töteten in Derry 14 Menschen - unschuldige Zivilisten, die alle unbewaffnet waren. Die Rache der IRA folgte am 21. Juli: Am "Bloody Friday" starben neun Menschen durch eine Serie von 20 Bombenanschlägen in Belfast, 130 wurden verletzt. Die radikalen Kräfte auf beiden Seiten verzeichneten großen Zulauf, eine friedliche Lösung des blutigen Konflikts mitten in Europa war in weite Ferne gerückt. Erst im Jahr 2002 entschuldigte sich die IRA für den "Bloody Friday" bei den Angehörigen der Opfer. Weitere acht Jahre dauerte es, bis sich 10 Downing Street zu einer Entschuldigung durchrang.
Es sind die Gespenster einer blutigen Vergangenheit, die bis heute in den Köpfen der Menschen spuken. Abgrenzen lautet die Devise, einmauern. Auf katholischer Seite fühlte man sich vor dem EU-Beitritt vom Rest der Insel abgeschnitten, zwangsweise zusammengepfercht mit dem Feind. Auf protestantischer Seite klammert man sich an London und fürchtet, im Fall einer Wiedervereinigung mit dem Rest der Insel sang- und klanglos unterzugehen. Eine Angst, die unbegründet ist. Denn in Dublin hatte man nie besonders große Lust, sich einen bis heute schwelenden Konflikt ins eigene Land zu holen.
Europäische Kommission - Pressemitteilung Brüssel, 18. Februar 2019 Mit dem Lorenzo-Natali-Medienpreis der Europäischen Kommission werden Journalisten für eine herausragende Berichterstattung über entwicklungspolitische Themen ausgezeichnet. Bewerbungen in den Bereichen Online-, Print- und audiovisuelle Medien werden vom 18. Februar bis zum 14. April 2019 entgegengenommen.
Europäische Kommission - EUROSTAT - - - - Brüssel, 19. Februar 2019 Im Dezember 2018 sank die saisonbereinigte Produktion im Baugewerbe gegenüber November 2018 im Euroraum (ER19) um 0,4% und in der EU28um 0,9%, laut ersten Schätzungen von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union.