Manifeste werden in Zeiten des Umbruchs verfasst, in denen alte Ordnungen und Überzeugungen ins Wanken geraten und Neues nicht in Sicht ist. Die Hochzeit jener Schriften, mit denen sich Künstlerinnen und Künstler mittels großer Geste ins Weltgeschehen eingeschrieben haben, datiert vor allem zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts: Gleichsam im Wochentakt wurden damals politische Utopien hinausposaunt.

Nach langer Zeit macht nun wieder ein Manifest von sich reden: das European Balcony Project. Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse hat es gemeinsam mit der deutschen Politologin Ulrike Guérot, die den Thinktank European Democracy Lab mitbegründet hat, der österreichischen Kulturwissenschafterin Verena Humer und dem Schweizer Theatermacher Milo Rau verfasst. "Es ist Zeit, das Versprechen Europas zu verwirklichen und sich an die Gründungsidee des europäischen Einigungsprojekts zu erinnern", heißt es in dem Schreiben.

Europa am Scheideweg

Die Grundthese des Papiers? "Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert." Die Initiatoren fordern deshalb ein Europa der Regionen, ohne Nationen und ohne Grenzen; damit wolle man, so die Intention, ein Zeichen gegen das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte setzen. Das Ziel sei, "eine gemeinsame europäische Demokratie zu gestalten", die "Menschen eint und nicht Staaten integriert".

In dem Manifest wird auch kritisiert, dass die europäische Idee verraten wurde: "Der Binnenmarkt und der Euro konnten ohne politisches Dach zur leichten Beute einer neoliberalen Agenda werden, die der Idee der Gerechtigkeit widerspricht." Ulrike Guérot formulierte es im Rahmen eines Pressegesprächs so: "Wir haben keine Rechtsgleichheit für Bürger."

Am Samstag, 10. November, soll das Manifest um 16 Uhr zuerst öffentlich vorgetragen und anschließend symbolisch die "Europäische Republik" ausgerufen werden. Ziel der politisch-künstlerischen Intervention sei es, betonen die Organisatoren, eine möglichst vielfältige Debatte über die Zukunft Europas noch vor den EU-Wahlen im Mai 2019 in Gang zu bringen: Von Vilnius bis Belgrad, von Malmö bis Brünn sind deshalb auch über 120 Bühnen und Kultureinrichtungen an der Aktion beteiligt, etliche Privatpersonen engagieren sich. "Derzeit stehen wir bei 350 Balkonen über ganz Europa verteilt", resümierte Menasse jüngst bei einer Pressekonferenz im Wiener Schauspielhaus.

In Wien sind Burg- und Volkstheater, Schauspielhaus, Werk X, Kunsthalle und der Gemeindebau Liebknechthof mit von der Partie. In Hamburg wird die Schauspielerin Corinna Harfouch die Erklärung verlesen; in Weimar ist Menasse als Leser geladen, und in Berlin wird der Balkon des Roten Rathaus zum Ort des Geschehens.

Ermöglicht wurde das "European Balcony Project" durch ehrenamtliche Mitarbeiter, finanziert durch eine Crowdfunding-Aktion. Das Datum der Proklamation hat historische Bedeutung. Am 9. November 1918 wurde von einem Balkon in Berlin die Republik ausgerufen, am 11. November 1918 folgte der Waffenstillstand von Compiègne: Der 10. November war somit der Tag des Aufbruchs. Die Aktion 2018 will nicht zuletzt auf den Reformbedarf innerhalb der EU und ihrer Apparate aufmerksam machen: Nicht selten blockieren nationale Regierungen, die vornehmlich Eigeninteressen vertreten, notwendige Entwicklungen. In jedem Fall ist die Aktion ein lebendiges Zeichen gegen den allseits spürbaren Rechtsruck. Im Manifest heißt es dazu: "Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft."