Paris, Mai 1870: Es sind kuriose, künstliche Wesen, die gleichermaßen Zuschauer und Konstrukteure in ihren Bann ziehen. So gibt es etwa Enten aus vergoldetem Kupfer, die quaken, fressen und trinken können. Der Archivar der Pariser Oper, Charles Truinet, der sich mit Künstlernamen Charles Nuitter nannte, entdeckte E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" als Grundlage für ein Ballett und erarbeitete gemeinsam mit dem Choreografen Arthur Saint-Léon das Libretto für "Coppélia oder: Das Mädchen mit den Emaille-Augen". Der Erfolg der Premiere liegt nicht zuletzt an der Handlung, die aber nur noch wenig mit der schwarzen Gruselromantik von Hoffmann zu tun hat, sondern in einem komödiantischen Spiel um Liebe, Verwechslung, Täuschung und eine Puppe wurzelt.
Wien, Jänner 2019: Nach 149 Jahren steht "Coppélia" weiterhin auf den Spielplänen der großen und kleinen Häuser. Diesmal an der Volksoper, wo am Sonntag, 27. Jänner, Premiere sein wird. Der französische Ballett-Archäologe Pierre Lacotte zeigt nach "La Sylphide" (2011) für das Staatsballett nun die detailgetreue Originalversion der Ballettkomödie aus 1870 - inklusive dem dritten Akt, der nach ein paar Vorstellungen gestrichen wurde. Der Grund dafür: Die Handlung der zwei Liebenden Swanilda und Franz ist mit Ende des zweiten Akts vorbei, das Rätsel um die Puppe Coppélia, in die sich Franz verliebt hatte, gelöst. Dem gesamten dritten Akt liegt somit keine Handlung mehr zugrunde, er dient allein dem Tanz. "Die Choreografie ist heute nicht mehr bekannt", sagt Anne Salmon, Ballettmeisterin und enge Mitarbeiterin von Lacotte, die zurzeit das Stück mit dem Staatsballett einstudiert.

En travestie im Original
"Er hat diese nach dem Vorbild der beiden vorhandenen Akte rekonstruiert, ganz im Sinne von Arthur Saint-Léon." Der heute 87-jährige Lacotte hat während seiner langjährigen Karriere ebenfalls viele Rollen des Stücks selbst getanzt. "Es gibt eine Tradition von Ballettmeister zu Tänzer, die eine Rekonstruktion gerade von ,Coppélia möglich macht", so Salmon.
Aber auch in den beiden vorhandenen Akten musste Lacotte Veränderungen vornehmen: Die Rolle des Franz wurde mangels talentierter Tänzer seinerzeit en travestie dargestellt: "Da es zur Entstehungszeit keine Variation für den Tänzer gab, hat Lacotte noch eine Variation für einen männlichen Tänzer hinzugefügt", erklärt die Ballettmeisterin. Denn die technischen Anforderungen zwischen Tänzerinnen und Tänzer sind bis heute unterschiedlich, wenn auch diese Grenzen zunehmend verschwimmen. Damals jedenfalls wurde mit viel Pantomime die Handlung weitergeführt und die Körperhaltung von den engen Korsetts diktiert. Deshalb braucht eine heutige Coppélia-Tänzerin besondere Fähigkeiten: "Sie muss nicht nur tanzen, sondern auch schauspielen können", sagt Salmon, "und sie muss ein wenig wie eine Puppe aussehen: also große Augen, Porzellanhaut und ein bisschen kindlich. Für dieses Ballett muss man seine erhaltene Kindlichkeit in Tanz umsetzen. Sehen Sie sich nur Natascha Mair an!"
Körperreisen
Die 23-jährige Wienerin und erst kürzlich zur Ersten Solistin Berufene wird am Sonntag die Premiere tanzen. "Mir liegt dieses Kindliche und das Schauspiel sehr", sagt Mair. Sie habe sich alte Videos angesehen, um diesen besonderen Stil und auch die Gestaltung zu studieren. "Auf diesem Wissen erarbeite ich dann meine Version der Coppélia", so die Tänzerin. Nach Nurejew- oder Kenneth-MacMillan-Choreografien nun romanischer Saint-Léon - kein leichtes Unterfangen, möchte man glauben, sind doch die Tanzstile sehr unterschiedlich. "Klassisch ausgebildete Tänzer haben die technische Basis, um in Stilen zu wechseln. Das ist kein Problem", erklärt Mair. "Das ist eben das Schöne daran, heute klassischer Tänzer zu sein: Man kann in der Geschichte des Balletts reisen, die unterschiedlichsten Welten kennenlernen. Das ist wundervoll", schwärmt Salmon. "Reisen in den Gedanken, ist leicht, mit dem Körper dann schon schwieriger. Den heutigen Tänzern wird physisch sehr viel abverlangt", betont sie.
Doch ist eine Reise in die Originalchoreografie von 1870, abgesehen vom tanzhistorischen Wert im Jahr 2019, nicht schon allzu verstaubt? "Gefällt Ihnen ,Dornröschen? Mögen Sie Feen-Geschichten?", fragt Salmon. Und: "Träumen Sie gerne? Jeder träumt gerne. Das ist auch die Antwort: Verstaubt? Nein. Verträumt!"