Zum jüngsten "steirischen Herbst" zeigte das Grazer Schauspielhaus die Dramatisierung von Fiston Mwanza Mujilas "Tram 83". So heißt der in allen Elendsfarben schillernde Debütroman des seit zehn Jahren in Graz lebenden Kongolesen aus der in Bürgerkriegen umkämpften Bergbauregion Katanga. In der Bar "Tram 83" am Bahnhof versinken allabendlich Abenteurer und Gescheiterte, Mineure und Diamantenhändler, Strich-Kücken und Freier-Erpresser, rebellierende Studenten und Günstlinge des allmächtigen Warlords im Suff und Jazz. Gemischte und andere Paare verschwinden in der Toilette. "Tram 83" schlägt alle Hafenspelunken von Surabaya, die sich Brecht ausgedacht hat. Sie ist das Letzte an Elend und Verkommenheit auf der Welt. Ein einziger Barhocker will und kommt vielleicht heraus: ein Dichter und Moralist.
In der davon inspirierten Uraufführung von Mujilas "Zu der Zeit der Königinmutter" heißt der schmutzige Nabel und zugleich Bühne der Welt "New Jersey Bar". Im Akademietheater unterbietet die Vorhangkulisse den Charme eines Mehrzwecksaals in einem Volksbildungshaus. Akustisch aber heizt, wie in Graz, der Saxophonist Patrick Dunst schon vor Beginn hinter dem Vorhang ein. Eineinhalb Stunden folgt das Sprechdrama dem Muster eines Jazzkonzerts: einzelne Figuren treten mit Soli hervor, lyrisch und erzählend, in einer schon im Roman angestimmten Kühnheit und Dichte von Bildern und Metaphern.
Die Aufzählung apokalyptischer Plagen klingt nach Johannes. Wie in Litaneien werden Selbstbezichtigungen, Schmerzenskataloge aber auch Biermarken heruntergebetet. In das epochemachende Klagepathos der Beat Generation im Chelsea Hotel und Gaslight Cafe im Village der fünfziger Jahre mischen sich popkulturelle Nonsense-Spielereien wie im Grazer Theatercafé in den Sechzigern. Auf die Ansage "Ich bin in Fucking geboren" folgt eine Serie weiterer semantisch doppelbelasteter Ortsnamen wie Freilassing und Sommerloch.
Lacht wer? Im Publikum verstehen viele nicht mehr als der Zottelbär, den der Schauspieler Philipp Hauß, diesmal Regisseur, als stummen Gast an den Bühnenrand setzt. Statt einer Handlung folgen gestisch gestützte Textaufsagungen. Zu Beginn in einer Aufzählung von Ländernamen von Deutschland bis Libyen klingt Gertraud Jesserer müde. Abendländisch-kulturell ausgepumpt? Sie wird auf eine Lautsprecherbox gehievt und schaut so ratlos zu wie der Bär. Denn mitnichten zieht nun exotische Vitalität wie im Roman ein. Die drei Stammgäste in der Bar zeigen mehr Décadence als Kraft. Und sie rauchen beinahe Kette. Ein Wattepanzer zerdehnt Markus Hering zum behäbigen Buchhaltertyp, Sven Dolinski und Simon Jensen in dürftiger Damengarderobe grapschen ihn an. Mirco Kreibich stößt in weißem Hemd und gebügelter Hose als erkennbar Fremder hinzu. Solo heißt er in einer seiner vielen Sprechrollen. Solo ist, wie die Genesis Adam nachsagt, aus Lehm geboren. Er erzählt seine Lebensgeschichte, vom geächteten Kind bis zum blutigen Täter. Ein Einzelschicksal als Menschheitsgeschichte. Kreibich zaubert braunen Lehm aus Gesicht und Haar und scheint sich wie unter Wasser aufzulösen. Die einzige Szene, die packt.
Viel vom Text kommt rasch und undeutlich über die Rampe. Der soziale Kosmos des Romans zerflattert in unzählige Bezüglichkeiten – in weltavantgardistische und lokal-steirische. Gertraud Jesserer enträtselt im Schlusswort den Titel des Abends: Die "Königinmutter", derer man sich erinnert, regierte wohl ein Puff. In einem Goldenen Zeitalter, und als fleischgewordenes Echo auf das archaische Matriarchat.
Zum jüngsten "steirischen Herbst"