Müsste man einen Satz finden, der vieles in Heimito von Doderers uferlosem Werk auf den Punkt bringt, es wäre wohl eine Sentenz, die Kalender und Zitatensammlungen ziert: "Wer sich in Familie begibt, kommt darin um." Familie geistert bei Doderer als Subtext immer herum - auf besonders konträre Weise aber in "Die Strudlhofstiege" und "Die Merowinger".
"Die Strudlhofstiege" entwirft ein kaleidoskopartiges Gesellschaftspanorama Wiens einige Jahre vor und eine Zeit nach Ende des Ersten Weltkriegs. "Die Merowinger" sind hingegen eine brachiale Familiengroteske. Während "Die Strudlhofstiege" Doderers Ruhm als Romancier begründete, nehmen sich "Die Merowinger" im Gesamtwerk des Autors wie ein bizarrer Jux aus: Skurrile Figuren und Gewaltdarstellungen fallen hier völlig aus dem Rahmen; Doderer-Connaisseuren gilt der 1962 erschienene Roman - Untertitel: "Die totale Familie" - gerade deshalb als besonderes Juwel.

Der Inhalt: Protagonist Childerich III. von Bartenbruch will mit Hilfe innerfamiliärer Heiratspolitik sein eigener Großvater, Vater, Schwiegervater und Schwiegersohn werden, wobei er mit dieser fixen Idee einer "totalen Familie" selbstredend sämtliche Familienbande ad absurdum führt.
Und was passiert in der "Strudlhofstiege"? Jede Inhaltsangabe dieses Großstadtromans mit schillerndem Figurenkosmos samt verflochtenen Handlungssträngen und zahllosen Schauplätzen würde den Platz hier sprengen.
Diese Theatersaison bietet nun die einmalige Gelegenheit, gleich beide Romane auf der Bühne zu sehen. Intendantin Anna Badora bringt am 11. September "Die Merowinger" im Volkstheater zur Uraufführung - "Die Strudlhofstiege" eröffnet am 5. September die Spielzeit in der Josefstadt.
Damit rückt ein Autor wieder in den Mittelpunkt, der innerhalb der österreichischen Literatur eine besondere Position einnimmt - und dessen Rezeption einer Achterbahnfahrt gleicht.
Doderers kurzer Ruhm
Gut zwei Jahrzehnte schrieb Doderer, bevor seine Texte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden; mehr schlecht als er recht hielt er sich mit Zeitungsbeiträgen über Wasser. In den 1950er Jahren ging es dann Schlag auf Schlag: 1951 erlangte der damals 54-Jährige mit der Veröffentlichung von "Die Strudlhofstiege" über Nacht lokale Berühmtheit; fünf Jahre darauf gelang ihm mit dem Opus Magnum "Die Dämonen" der internationale Durchbruch. Vom deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" wurde Doderer als "Thronfolger für die verwaisten Kronsessel der deutschen Literatur" ausgerufen, der Wiener galt als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis. Unterstützer wie Friedrich Torberg stilisierten ihn zum "Austriae Poeta Austriacissimus"; Doderer wurde Thomas Mann, Robert Musil und James Joyce gleichgestellt.