Wo sind wir? Der Songwriter Ian Fisher, der Amélie Niermeyers Neuinszenierung live begleitet, kommt aus dem ländlichen Amerika und singt in seinen Balladen Verlorenem hinterher. Die Küche im Haus mit zwei Etagen auf der Drehbühne (Bild: Stefanie Seitz) ist elektrisch ausgestattet, Annelies Vanlaeres bezaubernde Kostümüberfülle heutig. 1904, als Anton Tschechows "Kirschgarten" in Moskau Premiere hatte, war in den USA längst schon die rational kalkulierende Profitwirtschaft in Fahrt. Bei Tschechow kommen die Kirschblüten unter die Räder des Fortschritts, in einem Gedicht von Pasolini die Glühwürmchen in Friaul. Niermeyers "Kirschgarten", nach den Übersetzungen von Elisabeth Plessen und Ulrike Zemme, ist so international wie jede Vorabend-Trashcomedy im Fernsehen. Und so unterhaltsam wie die besseren im abgegrasten Genre.
Den aus der Bauernplebs aufgestiegenen Entrepreneur Lopachin macht die betriebswirtschaftliche Nase zum Besitzer eines verschuldeten Landguts. Hat er erst den Boden bestandsfrei gemacht, wird er parzelliert und an Zweithausbauer verpachtet. Mit einer Fairness, die dem ungehobelten Neureichen prima vista keiner zutraut, bot er seinen Businessplan zuvor den Ansäßigen zu ihrer Rettung an. Doch Hochgeboren Ranjewskaja, eben von teuren fünf Jahren lustigen Lebens in Paris heimgekehrt, wollte die zur Ertragslosigkeit heruntergewirtschaftete Obstplantage ebenso wenig opfern wie ihr Bruder Gajew. Zwar geht noch der Vollmond, diese Ampel romantischer Melancholie, überm Herrenhaus auf. Doch zugleich schreit eine Leuchtschrift vom Bühnenhimmel das Ende der feudalen Behaglichkeit herunter: Sold! Verkauft! Die Motorsägen rattern bald. Jetzt heißt es für Herrschaft und Personal Abfahrt! Nur der greise Diener Firs bleibt und legt sich hin zum Sterben. Weil ihn der zu Weltvergessenheit eingebremste Otto Schenk gibt, endet der urkomische Josefstädter "Kirschgarten" doch noch sentimental und melancholisch.
Kabarettistische Menschentypen
Tschechow selbst schilderte seinen Zeitkommentar als "Komödie" aus. Sie beginnt damit, dass Lopachin (Raphael von Bergen) und die reizende Dunjascha (Alma Hasun) auf die Ankunft der Paris-Heimkehrer warten. Wie erkennt man eine Magd? Sie reibt sich die müden - oder vom reichen Lopachin abgegriffenen? - Schenkel. Zwei Stunden lang leben sich die unterschiedlichsten Menschentypen in kabarettreifen Zuspitzungen aus. Ein buntes Ensemble ist auf Vollkörperkunst, bis hin zur Vollkörperdusche, trainiert. Josefstadt meets Werk X.
Sona MacDonald bringt aus Paris Couture, überfeine Manieren und Sinnlichkeit mit, sowie ihr Töchterchen Anja (Gioia Osthoff, eine muntere Freude) und eine Gouvernante - hier als komisch-traurige Schwulenklamotte von Alexander Absenger, mit einem Showdance unter Goldflitterregen. Raphael von Bargen hämmert mit WU-Newspeak los und gibt mit den Luxusmarken von Anzug und Schuhwerk an. Für den übergroß-fülligen Robert Joseph Bartl ist die Tolpatschrolle des die Hausfrau anschwärmenden Gutsnachbarn ein Heimspiel. Götz Schulte, Bruder Gajew, wehrt sich gegen den Zukunftsdruck mit brummbärigem Aristokratenstolz.
Das Domestikenpaar Danjascha und Jascha (Claudius von Stolzmann) kann auch auf dem Küchentresen nicht genug vom Lieben bekommen. Warja (Silvia Meisterle) bleibt eine Stieftochter des Glücks: Lopachin, nach dem sie sich sehnt wie nach einer Befreiung, will sie nicht heiraten. Igor Karbus geistert als Buchhalter durch den Damenschwarm. Klugheit, Übersicht, Moral sind wie so oft in Tschechows Dramen bei einem mittellosen Hauslehrer (Nikolaus Barton) geparkt. "Leiden und Arbeiten" soll die Russen in die Zukunft führen. Anja liebt diesen Trofimow, aber will allein nach dem Glück und einen neuen Kirschgarten streben.
Zum Adieu vom alten Haus tritt das halbe Ensemble an Instrumenten zum Abschiedskonzert zusammen. Betörend die Soundkulisse mit der Sehnsuchtsstimme von Ian Fisher nach den Noten von Imre Lichtenberger Bozoki. Nur noch "Laras Lied" aus "Schiwago" grüßt aus Russland. Die Kirschbäume fallen in aller Welt.