An Wagemut fehlt es diesem Opernabend nicht - weder auf der Bühnen noch hinter den Kulissen. Seit Samstag zeigt die Wiener Staatsoper Beethovens "Fidelio" nicht in der Erfolgsfassung von 1814, sondern in der gefloppten Ur-Version aus dem Jahr 1805. Die ist in der Hauptsache zwar daran gescheitert, dass die Franzosen in Wien einmarschiert waren und der Oberschicht die Theaterlaune verdarben. Doch der Ur-"Fidelio" litt auch an erheblichen Unwuchten. Das Rettungsdrama der Leonore, die sich als Zuchthaus-Gehilfe Fidelio an ihren schmachtenden Gatten heranpirscht, kommt zu spät in die Gänge. Zu lange hält sich der Abend mit den Liebeleien des Gefängnispersonals auf, zu ausführlich ergeht er sich in hübschen Singspiel-Ensembles, bevor die Heldin endlich die Kellerverliese nach ihrem angetrauten Polit-Gefangenen Florestan durchkämmen kann. Auch die Dialogtexte von Joseph Sonnleithner zwischen den Musiknummern, immer wieder als behäbig getadelt, haben diesen "Fidelio" wohl einiges an Zuspruch gekostet.
Gute Idee, mäßige Ausführung
Regisseurin Amélie Niermeyer hat sich von den Misslichkeiten nicht abschrecken lassen und durchaus interessante Ansätze ersonnen. Ihre Kernidee: Die Verhaftung Florestans fügt Leonore ein Trauma zu, verursacht eine Persönlichkeitsspaltung. Nach der Verschleppung (während der Ouvertüre mitzuerleben) sitzen plötzlich zwei Frauen an der Bettkante. Einer Leonore aus Fleisch und Blut (Sängerin Jennifer Davis) steht ein eingebildetes Pendant gegenüber: Letzteres, verkörpert von Schauspielerin Katrin Röver, tritt ab dann als Selbstkritikerin und Einflüsterin auf. Freilich - man mag diese Verdoppelung aufgesetzt finden. Die Selbstgespräche der beiden Leonores (Moritz Rinke) ersetzen die ursprünglichen Dialogtexte aber nicht schlecht. Sie schildern nicht nur den inneren Zwiespalt zwischen Hoffnung und Risiko, Zweck und Mittel, sondern bringen (meist) auch die Handlung beiläufig auf den Punkt. Das Bühnenbild wiederum dämpft die Süße des Singspielbeginns: Alexander Müller-Elmau hat eine Gefängnishalle erbauen lassen, die mit ihren rostigen Metallstreben und Glaswänden an den Südbahnhof selig erinnert. Trotz ihrer Abgewetztheit bietet diese Szenerie Raum für Poesie: Wenn sich die verliebte Marzelline in ihr Glück mit Fidelio hineinträumt, sitzen die beiden einander bei einem Kerzenlichtdinner mit Stehgeigern gegenüber. Zugegeben - dies alles geht nicht ohne musikalische Längen vonstatten. Bis zur Hälfte leistet Niermeyer dem - ursprünglich - dreiaktigen Abend aber gute Dienste als Troubleshooterin.
Doch allmählich entgleitet ihr der "Fidelio" ins Lächerliche. Der Schurke Pizarro? Ist hier ein Feuerteufel im roten Anzug, der die Beweise seiner Willkürmorde abfackeln lässt. Ein Heer brüsker Bürokraten wirft die verschnürten Leiber in einen Hohlraum unter der Halle (!). Die Schauspiel-Leonore wird dabei zunehmend unnötig. Was tun mit ihr während der Musikstücke? Die Lösung, sie über den Boden rollen oder herumtanzen zu lassen, riecht nach Beschäftigungstherapie. Am Ende scheitert die Rettungsmission: Leonore läuft Pizarro buchstäblich ins Messer, erträumt sich das Happy End lediglich in ihren letzten Lebensminuten. Leider: Diese Regie-Volte spießt sich mit dem Text, und sie wird bizarr dargereicht: Ein jeder Sänger, ein jeder der (guten) Staatsopernchoristen steckt in einem Glitzerkostüm, das mühelos zehn Wunderkerzen überstrahlen könnte, während im Hintergrund lianenlange Lametta-Zotteln leuchten. Der Seltsamkeiten nicht genug: Don Fernando betritt dieses Funkelpandämonium nicht als wohltätiger Minister, sondern als NLP-geschulter Populist mit dichtem Medientermin-Kalender. Soll dies Leonores Freiheitsutopie sein - oder doch eine Karikatur auf heutige Event-Politik? Eine Entscheidung hätte der Regie gutgetan.
Durchwachsenes Klangbild
Auch die Sänger liefern kein überzeugendes Plädoyer für den Ur-"Fidelio": Zu inhomogen liest sich ihre Leistungsbilanz. Zwar bürgt Chen Reiss als Marzelline für aparte Fräuleintöne, zwar entstößt sich Benjamin Bruns brennheiße Florestan-Attacken und stellt Falk Struckmann seine stämmige Stimme (meist) souverän in den Dienst des Kerkermeisters Rocco. Thomas Johannes Mayer ist die Rolle des hasszerfressenen Pizarro aber mitnichten auf den Leib geschrieben: zu wohlig und mollig sein Timbre. Optisch ein schnittiger Schurke, geht er akustisch hier und da im Orchesterklang unter. Auch Jennifer Davis kämpft mit ihrer Leonore-Partie, kann zwar mit dichten Spitzentönen für sich einnehmen, gerät in den Koloraturkurven aber öfters ins Schlingern. Akkurat dafür das Orchester: Das zieht unter der Leitung von Tomá Netopil zwar nicht alle Register seiner Überwältigungskunst, stellt den Erst-"Fidelio" aber sachdienlich und bisweilen schwungvoll zur Diskussion. Am Ende eine freundliche Musiker-Belobigungen seitens des Publikums, aber ein Buh-Chor für die Regie.