Er ist ein Verfechter des Neoklassischen und dem zeitgenössischen Tanz gegenüber offen: Martin Schläpfer wird ab kommender Saison neuer Direktor des Wiener Staatsballetts. Der 60-jährige Schweizer leitet seit elf Jahren erfolgreich das Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg. Tradition und Moderne wird er miteinander verbinden, und die Zukunft der in Kritik geratenen Ballettakademie transparenter gestalten, sagt Schläpfer im Interview mit der "Wiener Zeitung".

"Wiener Zeitung": Sie haben in der Vergangenheit schon andere Angebote bekommen – wie etwa das Staatsballett Berlin. Jetzt sind sie hier gelandet. Warum gerade in Wien?

Martin Schläpfer: Ich habe vor mehr als zwei Jahren in Düsseldorf einen Teilzeitvertrag unterschrieben, um nicht mehr als Direktor tätig zu sein. Wenige Tage nach der Vertragsunterzeichnung kam Bogdan Roščić auf mich zu. Ich hatte mich nicht beworben. Es war Roščić Initiative, dass ich – wie Sie sagen – in Wien lande. Ich hoffe nicht nur im metaphorischen Sinn, sondern auch in dem einer erfolgreichen Landung (lacht). Das wird noch zu beweisen sein. Ich brauchte eine Weile, um mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Ich hatte bereits nach Anne Woolliams (Anm., 1993 bis 1995 Leiterin des Staatsopernballetts) ein Angebot bekommen, das Staatsopernballett zu übernehmen. Ich war viel zu unerfahren und habe abgelehnt. Als später dann Angebote kamen, habe ich mich entschieden, in dem neu erbauten Ballettcenter hier in Düsseldorf zu bleiben.

Der Choreograf als Tänzer: Martin Schläpfer in Hans van Manens "Alltag". - © Staatsoper/Gert Weigelt
Der Choreograf als Tänzer: Martin Schläpfer in Hans van Manens "Alltag". - © Staatsoper/Gert Weigelt

Was möchten Sie für und mit dem Staatsballett erreichen?

Es ist unter Manuel Legris doch einiges erreicht worden, was den tänzerischen Standard, die Intensität und die Virtuosität in unterschiedlicher Natur auf der Bühne betrifft. Strukturell hätte man aber auch einiges angehen können.

Was zum Beispiel?

Richtige Schwingböden etwa, das möchte ich ändern. Ich möchte auch die Debatte klassisches oder zeitgenössisches Ballett aufheben, denn eine solche Adresse wie die Staatsoper hat die Aufgabe exzellenten Tanz zu zeigen – in seiner ganzen Breite –, wie es das Musiktheater, das Konzert und das Schauspiel auch machen. Diese Diskussion und Trennung schwächen uns sonst. Eine Verknüpfung muss selbstverständlich sein, ohne dabei das klassische Erbe zu vernachlässigen. Ich bin Choreograf und Künstler, und da kann man nur im Heute arbeiten. Das ist keine Frage des Spitzenschuhs, den ich sehr liebe, sondern eine Frage danach, wie sehr man in der Zeit verankert ist. Da gehört auch zeitgenössische Musik dazu. Hier möchte ich schon ein bisschen schrauben. Dazu gehört vielleicht auch einmal ein Kompositionsauftrag. Ich habe jetzt einmal eine erste Saison programmiert, dann sehen wir weiter.

Wird das Ballett der Staatsoper mit dem der Volksoper gemeinsame Produktionen bespielen?

Die Dachorganisation Staatsballett inkludiert auch die Tänzer an der Volksoper, und da ist mir wichtig, dass sie gemeinsam auftreten und arbeiten.

Ein logistischer Mehraufwand, mit dem schon Ihre Vorgänger zu kämpfen hatten.

Ja, beim Brahms- und beim Mahler-Stück kommen sie zusammen. Diese Kompagnie hat laut Kooperations- und Kollektivvertrag den Auftrag, in Oper, Operette und Musical aufzutreten. Daran wird sich nichts ändern. Es ist zwar mit dem Konstrukt Wiener Staatsballett ein "Tanz-Dach" gespannt worden, aber man steht doch dazwischen – zwischen zwei Häusern, zwei Intendanten. Diese Thematik bildet sich dann auch in Themen wie einem Corporate Design ab. Wie bekommt man ein Design hin, das sowohl mit Staatsoper als auch mit Volksoper kompatibel ist und uns dazu eine Identität gibt? Der Ballettclub und die Ballettakademie gehören da genauso dazu.

Andrey Kaydanovskiy (stehend) und Davide Dato in "Skew-Whiff" von Sol León & Paul Lightfoot. - © Michael Poehn/Wiener Staatsoper
Andrey Kaydanovskiy (stehend) und Davide Dato in "Skew-Whiff" von Sol León & Paul Lightfoot. - © Michael Poehn/Wiener Staatsoper

Sie haben rund ein Viertel der Tänzerverträge nicht verlängert. Das führt zur Frage: Welche Qualitäten muss Ihr Tänzer haben?

Je älter ich werde, umso wichtiger ist mir: Der Körper muss neben der Leistungsfähigkeit auch eine gewisse Form haben. Das ist Grundvoraussetzung wie auch die Musikalität. In Wien vermehrt, da wir auch das klassische Erbe gut erfüllen möchten. Mich inspiriert eine psychische Offenheit: Wenn sich jemand im Prozess vergisst, wenn wir beide – mit Respekt – im geschützten Raum die Bewegungen, die Kreativität nicht mehr kontrollieren. Also, wenn jemand Grenzen verschieben möchte, imaginiert, passioniert ist und kein Beamter. Das ist in Wien nicht der Fall, aber es besteht die Gefahr. Denn der Tanz arbeitet berechtigterweise in den Strukturen von Orchester und Chor, und dann sieht man schon einmal genauer auf die Uhr. Beim Tanz ist das noch ein wenig fragiler, weil er körperlich ist. Denn, seien wir ehrlich, er ist eine der härtesten Künste, weil er derart viel Hingabe abverlangt. Aber es ist ein grandioser Beruf, es ist in meinen Augen immer noch das Schönste, Tänzer sein zu dürfen. Das möchte ich auch einmal laut sagen, denn man hört immer nur über die Schmerzen, den Verlust und was man versäumt im Leben. Ich habe das nie so empfunden. Natürlich kann man nicht rechts und links gehen, aber in die Tiefe. Die Kunst ist sehr relevant in einer verkopften, kontrollierten Welt, weil sie mit den Sinnen wahrgenommen wird. It’s wonderful.

Sie sprachen schon die Ballettakademie an. In ihr wurden 2019 Missstände aufgedeckt. Sie sind der künstlerische Leiter der Schule ab September. Was wird sich nun ändern?

Es gibt den Sonderbericht der Kommission der auch in aller Munde war. Nun gibt es in der Ballettakademie dahingehend einiges zu monieren, einiges wurde schon verbessert. Ich möchte gar nicht zurückblicken und werten. Wir haben eine Expertenkommission ins Leben gerufen mit Mavis Staines (Toronto), Samuel Wuersten (Zürich/Den Haag) und Jason Beechey (Dresden), um das Ganze zu durchleuchten und die Ergebnisse dann auf Papier zu bringen. Ohne Investitionen kann man diese Schule nicht im Niveau heben. Und ich plädiere dafür, denn Wien ist ein grandioser Standort, das Staatsballett braucht sie und es ist eine Investition in die Jugend. Es ist natürlich herb, dass mit Corona dieser ganze Prozess schwieriger wird, sich verzögert. Nichtsdestotrotz ist dieses Analysepapier fast fertig, und ich werde dann zuerst mit Bogdan Rošèiæ das weitere Vorgehen besprechen. Ich will diese Schule. Es wäre zu wenig, einfach nur eine neue Direktion zu ernennen. Und es ist ganz wichtig, alles noch transparenter zu gestalten. Sie soll weiterhin klassisch basiert sein, das gehört zum Glamour. Wir sind ja eine Ballettkompagnie.

Geht sich das denn bis September aus?

Das muss es, es ist so geplant. Ich weiß, dass es schwierig ist, auch für die Pädagogen. Aber es geht jetzt nicht um Tempo, sondern um die richtigen Entscheidungen. Das war mit ein Grund, weshalb mich Wien so gereizt hat, denn ich bin seit 30 Jahren passionierter Lehrer, habe ja vor vielen Jahren auch so begonnen. Erst danach wurde ich Choreograf. Aber ich kann leider auch nicht zaubern. Wir haben in dieser Metropole etwa nur eine Gouvernante für alle Kinder. Das geht doch nicht. Die Thematik ist in aller Munde, auch jetzt in Berlin etwa. Es liegt mir so am Herzen. Es gibt immer diese schwarzen Schafe, und es ist ein widersprüchliches Terrain. Umso wichtiger sind die Transparenz und die offene Kommunikation. Denn es ist körperliche Arbeit, die man nicht ohne Emotionalität, ohne die Modellierung einer Skulpturalität vermitteln kann. Dafür muss man die Schüler auch anfassen können – mit intern verschriftlichten klaren Linien und Grenzen.

Auch Nurejews Wiener "Schwanensee" steht in der kommenden Saison auf dem Programm. - © Staatsballett/Ashley Taylor
Auch Nurejews Wiener "Schwanensee" steht in der kommenden Saison auf dem Programm. - © Staatsballett/Ashley Taylor

Auch werden Sie für das Staatsballett choreografieren, es wird zwei Uraufführungen von Ihnen geben.

Ja, das ist wichtig, um internationale Presse nach Wien zu bekommen. Bisher wurde das Staatsballett in den internationalen Medien nicht genügend als kreative Stätte wahrgenommen. Das möchte ich verändern. Ich wollte mir bei der Programmierung treu bleiben und nicht nur abendfüllende Ballette planen. Mahler ist eine Wahl für die Wiener Philharmoniker, denn wer könnte das besser spielen als sie. Vielleicht kann man somit eine Allianz schaffen mit dem Orchester mit Stücken, in denen sie brillieren können, um später Stücke mit Sänger und Chor zu kreieren. Ich bin auch mit dem Klangforum in Kontakt. Ich möchte im besten Fall das Publikum berühren, verändern, verwandeln. Meine Stücke sollen nicht glatt und leicht konsumierbar sein. Für die Tänzer sollen die Stücke so sein, dass sie sich in ihrer Kraft fühlen und damit identifizieren können. Wenn die Tänzer Feuer fangen, dann überträgt sich das aufs Publikum.

Gibt es schon Pläne, wie das Staatsballett nach Corona probend und trainierend einsteigen wird?

Da sind wir laufend in Kontakt. Ein Künstler braucht auch einen Grund, weshalb er trainiert. Und man darf nicht vergessen, dass Kultur und Kunst auch ein riesiger Wirtschaftsfaktor sind. Gerade die subventionierten darstellenden Künste werden es sehr schwer haben, sollten wir in eine Rezession schlittern. Hier braucht man eine klare Entscheidung. Ich hocke zurzeit in Düsseldorf, weiß nicht, ob die Tänzer einreisen können, ob sie eine Wohnung finden, ob wir überhaupt spielen dürfen, oder ob wir umplanen müssen. Es gibt auch keinen Abschied, hier, von Düsseldorf. Ich war wirklich sehr zerknirscht zu Beginn dieser Krise. Ich konnte gar keinen privaten Martin Schläpfer mehr finden. Es war nur noch der berufliche, und ich spürte die Verantwortung, die vielen ungelösten Fragen, und ich war frustriert, weil sich vieles verzögert. Jetzt geht es mir wieder gut, ich bin in meiner Kraft. Ich hoffe sehr, dass es im September wieder losgeht. Wobei ich ein Mensch bin, der lieber macht, als hofft.