Wieder einmal hat das Corona-Virus den Klassik-Liebhaber auf Musikkonserven-Diät gesetzt: Oper und Konzerte finden nach Maßgabe der eigenen CD-Sammlung statt und "live" nur mittels Streaming. Wobei "live" cum grano salis zu verstehen ist. Manches ist tatsächlich live im herkömmlichen Sinn des Wortes, anderes kann auf den diversen Plattformen längere Zeit abgerufen werden. Ganz, wie es aus dem ersten Lockdown bekannt ist. Ebenfalls wie im ersten Lockdown: Man kann des Glas halbvoll sehen. Insoferne nämlich, als man nahezu rund um die Welt zu Klassik-Erlebnissen kommt, die in coranafreien Normalzeiten eine glatte Überfütterung bedeutet hätten.
Nützliche Portale
Und man hat vielfach dazugelernt, als Anbieter wie als Konsument. Streaming bedeutet jetzt immer wieder einen Mehrwert mit Einführungen und einschlägigen Verlinkungen. So hat der deutsche Musik- und Medienwissenschafter Holger Noltze das Portal takt1.de eingerichtet, das einen Fahrplan für Klassik-Reisen bietet. Zur vollen Nutzung bedarf es eines Abos. Für idagio.com braucht es die kostenlose Anlegung eines Kontos, das Portal ist höchst benutzerfreundlich. Kostenpflichtig, aber außerordentlich reichhaltig ist myfidelio.at. Offline gegangen ist leider grammofy, das seinerzeit mit Abstand beste Klassik-Portal.
Abseits der Verteiler-Portale kann der Klassikliebhaber selbst auf die Suche gehen. Zahlreiche Opernhäuser bieten auf ihren Webseiten Streamings an: neben der Wiener Staatsoper und der Wiener Volksoper (diese bedingt kostenfrei auf myfidelio, Zugang über die Webseite der Volksoper) auch Londons Royal Opera House Covent Garden (ROH), die New Yorker Metropolitan Opera, die Opéra de Paris und sogar die Oper von Sidney (allerdings mit sehr wenig Klassik). Bayerische Staatsoper, die Staatsopern von Hamburg und Berlin, aber auch das Zürcher Opernhaus versuchen, gerade in der Corona-Krise durch die Möglichkeiten des Internets ein größeres Publikum als je zuvor zu erreichen. Auf dem Portal Opera Streaming zeigen die Opernhäuser der Emilia Romagna (also etwa Modena, Piacenza oder Parma) ihre Produktionen.
Schade ist, dass viele deutsche Opernhäuser mit spannenden Programmen, sei es aus rechtlichen Gründen, sei es aus Gründen der Technik, bestenfalls Teaser online stellen, nicht aber komplette Produktionen. Dass etwa Paul Dessaus "Lanzelot" aus Erfurt nur in kurzen Ausschnitten abrufbar ist, kann nur bedauert werden.
Insoferne ist auf YouTube auch das Portal TheaterTV von bloß eingeschränktem Nutzen: Opernliebhaber wollen eine komplette Produktion sehen, nicht Fünf-Minuten-Clips. Das Portal OperaVision hingegen kommt der Entdeckerfreude entgegen mit Einführungen, Clips und Produktionen von Opernhäusern auf der ganzen Welt. Allerdings muss man flott sein: Die kompletten Aufführungen werden nach einiger Zeit wieder vom Netz genommen. So sind Opern von Franz Schreker, Benjamin Britten oder Alberto Ginastera mittlerweile verschwunden. Und noch etwas wird dem Zuschauer auf OperaVision deutlich: Wie sehr die Lockdowns das Kulturleben mittlerweile ausdünnen. Herrschte vor Corona und sogar noch im ersten Lockdown ein Überangebot, spürt man jetzt auch schon die Verlegenheitslösungen. Und man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass selbst das Streaming früher oder später an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt, wenn die Live-Ereignisse fehlen.