Von allen Kulturinstitutionen leiden wohl die Kellertheater am meisten unter den Lockdowns. Die großen Bühnen werden überleben, weil sie überleben müssen. Österreich wird Burgtheater und Staatsoper nicht opfern. Was aber geschieht mit der Komödie am Kai? Mit Bronski & Grünberg? Mit der Wiener Scala? Mit all den anderen Kellertheatern, Klein- und Kleinstbühnen? Schnell erhebt sich die Frage: Brauchen wir denn diese Theater wirklich?
Deshalb ist gerade jetzt Hermann Schlössers "Welttheater auf engem Raum" das Buch der Stunde.
Schlösser, Literaturwissenschafter und lange Jahre Redakteur der "Wiener Zeitung", beschreibt, wie die kleinen Bühnen zum Aufblühen eines zeitgemäßen Wiener Kulturlebens nach 1945 beigetragen haben. Denn das neue Theater fasste nicht auf den großen Bühnen Fuß, sondern auf denen der Kellertheater.
Für einen der aufschlussreichsten Momente sorgt Schlösser mit der Liste der von 1945 bis 1960 gespielten Werke nicht-deutschsprachiger Autoren, die über die Bühnen der Wiener Kellertheater gingen. Unter den Autoren: Samuel Beckett, Albert Camus, Jean Cocteau, Yukio Mishima, Luigi Pirandello, John B. Priestley, Thornton Wilder, Tennessee Williams und und und. Symbolisten und Surrealisten, Absurde und Anarchische, Ultralinke und Erzkonservative, Mist und Meisterwerke: Wichtig war, die Stücke auszuprobieren, auf ihre Bühnenwirksamkeit abzuklopfen.
Wendige Kleinbühnen
Die weniger auf langfristige Planungen angewiesenen Kleinbühnen gingen auf die Suche, wagten das Experiment. Vielleicht würde es wendig gelingen, neue Klassiker zu finden, während die großen Bühnen schwerfällig bei den alten Meistern verharrten: All dem Goethe und Grillparzer, Shakespeare und Schiller, Lope de Vega und Lessing setzten die Kellertheater Günther Weisenborn und Jura Soyfer, Ferdinand Bruckner und Christopher Fry, Ödön von Horváth und Eugène Ionesco gegenüber.
Soll man unken, dass viele der Autoren dieser Stücke-Flut heute nicht einmal mehr namentlich bekannt sind? - Gegenfrage: Ist das relevant? Ist es nicht besser, möglichst viele Stücke auszuprobieren, statt sich auf gemähten Wiesen auszuruhen?
Überhaupt: Erstaunlich viele der Autoren, die von den Wiener Kellertheatern eingeführt wurden, sind im jetzigen Repertoire etabliert. Und viele sollten es sein, hätte Thalia mehr Sinn für Gerechtigkeit. Dass man heute lieber vermeintlich unzerstörbare Klassiker durch den Fleischwolf dreht oder, wie die Fachsprache es nennen mag, dekonstruiert, statt dass man die Stücke von Priestley, Audiberti, Anouilh oder Giraudoux spielt, zeugt nur vom Verfall der Literaturkenntnis von Dramaturgen und Regisseuren.
Doch nicht allein die Nennung der Autoren, auch die der Mitwirkenden der Wiener Nachkriegs-Kellertheaterszene gestaltet sich als Anrufung großer Namen: Elfriede Ott, Stella Kadmon, Hilde Sochor, Karl Heinz Böhm, Walter Davy, Romuald Pekny, Rudolf Wessely sind unter ihnen. Schlössers Beobachtung, dass die Wiener Kellertheater die Funktion der Theater in den k.u.k.-Provinzen übernommen haben, ist brillant.
Dazu erzählt Schlösser von den Verwerfungen der Theater untereinander, von ästhetischen und persönlichen Bruchlinien - und das in einem glänzend zu lesenden Stil. Dieses Buch ist nicht nur informativ, sondern, ja: spannend.
Wenn der Leser zum Schluss kommt, dass die Kellertheater auch heute unbedingt erhalten werden müssen, weil sie zum kulturellen Erbe gehören und unvermindert das theatralische Vermögen Wiens mehren, dann hat dieses Buch gerade in der Gegenwart viel bewirkt. Unbedingt lesenswert!