Alt ist nicht gleich alt - schon gar nicht in den darstellenden Künsten. Beispiel Ballett: Definitiv nicht mehr jung fühlt man sich - und wird auch so bezeichnet -, sobald die Altersgrenze von 30 erreicht ist.
Gewiss, durch die jahrzehntelange sportliche Hochleistungsüberbelastung des Körpers ist von Jungfühlen tatsächlich keine Rede mehr: Physische Abnützungen, die im Regelfall Menschen ab 60 zu spüren bekommen, erleben professionelle Ballett-Tänzerinnen und -Tänzer bereits in der Halbzeit an Jahren. Das Aufwärmen dauert länger, das Dehnen nach einem freien Tag nimmt mehr Zeit in Anspruch, die Muskeln schwinden schneller, dafür dauert der Wiederaufbau länger. Frechheit des Alters! Es wird mühsamer, in die gewohnte Form zu kommen oder diese überhaupt erhalten zu können. Das Alter, der unüberwindbare Feind?
Kampf um Waterloo
Zu altern bedeutet, neben dem buchstäblichen physischen Zweikampf, eine weitere schmerzliche Neuorientierung, nämlich das Sich-abfinden-Müssen mit der Tatsache, dass jener Tag näher rückt, an dem man den geliebten Ballettberuf aufgeben wird müssen. Altern dürfen nur die Choreografen. Irgendwann geht es nicht mehr. Man erkennt, dass man im tagtäglichen Kampf um körperlichen Status quo gleichsam wie ein später Napoleon agiert - leider nicht bei Austerlitz, sondern bei Waterloo. Man muss es derart drastisch ausdrücken, Ballett-Profis kennen das. Oder die Entscheidung wird einem gleich abgenommen: Das Engagement wird nicht verlängert.
Eine Position des sogenannten Senior Artist, wie sie vom neuen Ballett-Chef Martin Schläpfer beim Wiener Staatsballett eingeführt wurde, ist, angesichts von zwei Plätzen im Ensemble, schwer zu ergattern. Es bleibt dabei: 40 ist das 65 der Tänzerinnen und Tänzer. Ausnahmen gibt es: Margot Fonteyn, Maya Plisetskaya, Carla Fracci, Rudolf Nurejew. Sie füllten Opernhäuser, als ihre früheren technischen Fähigkeiten längst der Bühnenpräsenz gewichen waren. Das Echo ihrer klingenden Namen genügte. Darstellerisch waren diese Künstlerinnen und Künstler ohnehin intensiv. Fonteyn, Plisetskaya, Fracci und Nurejew waren oder sind Stars des Genres.
Internationale Tanzstars wie die heute 56-jährige Sylvie Guillem wussten, wann es Zeit ist zu gehen: Mit 50 verabschiedete sie sich 2017 von der Bühne. Eine Entscheidung, die in der Welt des Tanzes Enttäuschung hervorrief: Guillem hatte schon einige Jahre zuvor ihre Spitzenschuhe an den Nagel gehängt und sich von den Klassikern abgewandt, um sich ganz dem modernen, zeitgenössischen Tanz zu widmen - mit der Präzision und dem Können einer Primaballerina. Der moderne Tanz erfordert nicht Ballett-Hochleistungssport, eher die darstellerischen Erfahrungen erfahrener Tänzerinnen und Tänzer.
Während man beim Ballett mit 40plus die schreitende, aber nicht mehr tanzende Prinzenmutter mit großer Geste darstellen darf, geht es in diesem Alter im Ensemble von Pina Bausch erst richtig los: Das Tanztheater Wuppertal der 2009 verstorbenen Pionierin des zeitgenössischen Tanzes setzt seit seinem Bestehen auf reifere Tänzer: "Es ist keine Kunst und kein Können, sondern Leben", sagte Bausch einmal über ihre Stücke - und integrierte Gesang, Sprache, Alltagsgesten und Pantomime in ihre Werke. Was die Menschen bewege, so Bausch sinngemäß, das interessiere sie viel mehr, als wie sie sich bewegten. Bausch setzte weniger auf Pirouetten-Virtuositäten, mehr auf bewegtes Theater.
Die 2015 von Madeline Ritter gegründete Kompagnie Dance On stellt einen weiteren Sonderfall dar: Hier können die Tänzerinnen und Tänzer selbst bestimmen, wann Schluss sein soll. Finanziert wird die Kompagnie durch den deutschen Bundeshaushalt. Doch das sind Ausnahmen, die eine Regel bestätigen: Der Beruf der Tänzerin, des Tänzers hat ein schnelles Ablaufdatum. Tänzerin und Tänzer sind bereits alt, wenn andere ihre Karrieren beginnen.
Gegen Mauern anrennen
Das Sprechtheater mag zwar weniger unbarmherzig sein als der Tanz, grundverschieden ist die Situation, was die Altersproblematik betrifft, aber auch hier nicht. Wer mit 40 noch nicht etabliert ist, bekommt nur schwer neue Jobs, hat wenige Möglichkeiten, noch einmal von vorne anzufangen. Gerade Schauspielerinnen rutschen leicht ins Altersabseits, verlieren sich im weiten Feld der Nebenrollen, sehen sich dem Zwang zu Jugendlichkeit und Attraktivität unterworfen. Woran liegt das?
Shakespeares "König Lear" ist betagt, die Protagonistin in Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" über 60: Zwei Paraderollen, die im klassischen Theaterrepertoire Mangelware sind. Gerade der historische Dramenkanon sieht für Frauen wenige Charakterrollen vor, es dominiert das Rollenfach der "komischen Alten" und "Mutter", der "Salondame" und jungen "Naiven". Das mittlere Alter ist im klassischen Drama unterrepräsentiert und auch das Gegenwartsdrama trägt wenig zur Begradigung dieser Schieflage bei. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren schreiben den Bühnenfiguren häufig kein Alter zu, theoretisch könnten Altmeisterinnen Seite an Seite mit Nachwuchskünstlerinnen spielen, praktisch passiert das aber selten. Warum ändert sich an diesem seit langem bekannten Umstand so wenig?
"Die Situation von Frauen auf und hinter der Bühne ist untrennbar verbunden mit der Ungleichstellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft", sagt Regisseurin Sabine Mitterecker im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Die nicht vorhandene Gleichstellung ist das Kardinalproblem." Mitterecker ist seit den 1990er Jahren als Regisseurin tätig, hat an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland inszeniert und 1999 die mit dem Nestroy ausgezeichnete freie Formation Theater.Punkt ins Leben gerufen. "Ich bin gegen viele Mauern gerannt, Umwege und Seitenpfade gegangen, um meine Arbeit über Widerstände hinweg durchzusetzen", subsumiert die Theaterfrau ihre Erfahrungen und verweist auf eine Reihe an strukturellen Missständen, mit denen Frauen in der Branche zu kämpfen haben: Angefangen von ungleichen Gagen, die mit einem vermeintlichen Marktwert begründet werden, bis zur Tatsache, dass Frauen zwar den Theaterbetrieb als Assistentinnen und Dramaturginnen am Laufen halten, aber zu selten in Führungs- und somit in Entscheidungspositionen vertreten sind, vor allem an hoch dotierten Theaterhäusern. Mitterecker: "Der Plafond ist dort nicht gläsern, sondern fest zubetoniert."
Was tun? "Ich bin für die Quote, solange es nicht selbstverständlich ist, dass die am besten geeigneten Personen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Ethnie, ihrer sozialen Herkunft zum Zug kommen." Und weiter: "Wir brauchen Solidarität unter (Theater-)Frauen über Alters- und Erfahrungsunterschiede hinweg. Jede ist in ihrer Arbeit einzigartig, aber was Arbeits- oder Förderbedingungen betrifft, stoßen wir alle über kurz oder lang auf dieselben Probleme. Jede von uns, die bereits einen Schritt weiter ist, hat geradezu die Pflicht, jüngeren Kolleginnen uneigennützig weiterzuhelfen."
Reformbedarf
Altersdiskriminierung lässt sich nicht nur an den großen Bühnen festmachen, deren Ensembles tendenziell schrumpfen und immer jünger werden; in der freien Szene ist es nicht besser. Wo sind die Performerinnen und Performer, deren Können und Persönlichkeit über Jahrzehnte gewachsen sind?
Die Schauspielerin Jutta Schwarz (80) ist so eine Ausnahmeerscheinung. Sie hat die meiste Zeit ihres Berufslebens abseits etablierter Bühnen verbracht: "Ich wollte nie Theater für drei Prozent der Bevölkerung machen, ich wollte lieber mit allen ins Gespräch kommen." Von Straßentheater und der Entwicklung soziokultureller Theaterformen bis zu Stückentwicklungen hat sie viele Facetten des freien Theaterschaffens ausgelotet; derzeit gibt sie Schauspielunterricht am DiversityLab. "Ich habe viel parallel gearbeitet, war immer zugleich in mehreren Arbeitsfeldern tätig", zieht Schwarz über ihre Berufslaufbahn Bilanz. "Wir wurden damals auch besser bezahlt, weil die Kultur noch nicht so stark unter neoliberalen und selbstausbeuterischen Vorzeichen stand wie heute."
Warum verzichtet die Bühne weiterhin freiwillig auf das Potenzial gereifter Künstlerinnen und Künstler? Es bleibt ein Rätsel.