Warum wird Armut auf der Bühne häufig klischeebeladen dargestellt? Wie können bürgerlich dominierte Kultureinrichtungen Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft abbauen?
Die Antwort darauf kennen Francis Seeck und Julischka Stengele. Seeck ist an der Hochschule Neubrandenburg tätig und berät Kultureinrichtungen zum Thema Klassismus. Stengele setzt sich als Künstlerin und Kuratorin mit Antidiskriminierung auseinander.
"Wiener Zeitung": Welche Hürden muss ein Arbeiterkind nehmen, um überhaupt an eine Universität zu gelangen oder eine Kunsthochschule zu besuchen?
Julischka Stengele: Für mich war das ein langer Weg, den ich mir sukzessive erarbeitet habe - von der Hauptschule zur Berufsreifeprüfung, bis zur Fachhochschule und schließlich zur Kunstakademie. Meine Mutter war alleinerziehend ohne Berufsausbildung, mit elf kam ich in verschiedene Jugendeinrichtungen. In meinem Umfeld gab es für ein Leben als Künstlerin keinerlei Vorbilder, erst als ich in größere Städte gezogen bin, andere Menschen und Lebensentwürfe kennenlernte, habe ich mir ein Studium überhaupt zugetraut.
Francis Seeck: Vorsicht mit den Klischees in der Frage: Es gibt wohlhabende Menschen, die überhaupt nichts mit Kunst und Kultur anfangen können, und es gibt Familien mit geringem Einkommen, die Bildung sehr wohl wertschätzen, das ist weniger eine Frage der Klasse als des Wertekanons. Mein Vater war Erntehelfer, Friedhofsgräber und Fabriksarbeiter, er las gern, war viel im Theater, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, Kunst zu studieren. Wie will man von der Kunst auch leben?
Stengele: Und ich hätte nie gedacht, dass ich studiere und trotzdem arm sein werde! Ich habe wohl zu sehr daran geglaubt, dass sich für Studierte automatisch die Lebensumstände verbessern.
Warum geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander?
Seeck: In Deutschland werden 30 bis 50 Prozent des jährlichen Gesamtvermögens vererbt und nicht durch Lohnarbeit erwirtschaftet. Das dürfte in Österreich nicht viel anders sein. Trotzdem hält die Gesellschaft an einem völlig verkehrten Leistungs-Narrativ fest: Wer nur hart genug arbeitet, schafft es! Talent setzt sich durch! Dieser Mythos ist gerade im Kulturbereich weit verbreitet. Wenn man ehrlich ist, wird die Karriere aber häufig durch finanzielle Ressourcen und soziale Kontakte ermöglicht, die mit einer bürgerlichen Herkunft einhergehen.

Ist die Kunstwelt homogener als andere Branchen?
Stengele: Laut einer Studie kommen nur neun Prozent aller Bewerberinnen und Bewerber für die Wiener Akademie der bildenden Künste aus einkommensschwachen Schichten, Menschen, die in Jugendeinrichtungen aufgewachsen sind, machen nur ein Prozent aus. Es ein Labyrinth aus stählernen Türen und gläsernen Decken.
Seeck: Institutionelle Barrieren gibt es in vielen Branchen: Wer in einer Institution eine Führungsposition innehat, protegiert eher Menschen, die der eigenen Herkunft und dem eigenen Status entsprechen, so festigen sich Strukturen, so halten sich Systeme.
Klasse ist historisch betrachtet ein marxistischer Kampfbegriff, wie speist sich Klassismus in die gegenwärtigen Diskussionen ein?
Seeck: Klassismus beschreibt Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft und -zugehörigkeit, der Begriff wird analog zu Sexismus und Rassismus angewandt und ist in feministischen Bewegungen entstanden.
Woher kommt die Scham über eine niedere Herkunft?
Seeck: Das hat oft mit konkret erlebter Beschämung zu tun. Ich muss etwa sieben Jahre alt gewesen sein, als mich eine Freundin aus einer gutbürgerlichen Familie mit in den Ballett-Unterricht nahm. Die Lehrerin hat meine Hände hochgehalten und vor allen Kindern festgestellt: "Deine Fingernägel sind ja schmutzig." Das sitzt mir bis heute im Nacken. Wenn ich mich im bürgerlichen Ambiente aufhalte, frage ich mich unbewusst, wie es um meine Nägel bestellt ist. Wer aus einer einkommensarmen Familie kommt, kennt oft die Regeln des Bürgertums nicht, versteht die Normen nicht, fühlt sich leicht deplatziert.
Stengele: Das Gefühl kenne ich allzu gut. Es entsteht durch Klassenmigration, durch den Kontrast zwischen dem Leben der Bessergestellten und der eigenen Herkunft.

Worauf zielt Antidiskriminierung im Kulturbereich ab?
Seeck: Wir haben Programm, Publikum und Personal im Visier. Welche Geschichten werden auf der Bühne überhaupt erzählt? Meist geht es ja um Probleme der Oberklasse, einkommensschwache Menschen, Arbeiterinnen und Arbeiter kommen kaum zu Wort und wenn, dann werden sie meist ziemlich klischeehaft dargestellt, mit Bierdose in der Hand und weißem Unterhemd. Dann geht es um die Frage des Publikums: Wen möchte ich überhaupt ansprechen? Wie gestalte ich Eintrittspreise? Schließlich, das Personal: Wie lassen sich die enormen Einkommensunterschiede rechtfertigen zwischen Intendanz, Assistenz, Bühnenarbeitern und die über Zeitfirmen geleasten Reinigungskräfte? Da müssen wir ansetzen. Es ist nicht viel geholfen, wenn sich vereinzelt Menschen aus Arbeiterfamilien in Führungspositionen hocharbeiten, vielmehr müsste sich die gesamte Struktur verändern, mit einem fairen Lohn- und Gehaltssystem und besseren Arbeitsbedingungen für alle.