Sie kleben am Boden fest, und doch zieht es sie beständig nach oben. Dorthin wo vielleicht die Sonne scheint. Mit ausgestreckten Armen greifen Juan Pablo Cámara, Roni Katz, Adrius Mulakas und Elizabeth Ward in die Luft, filigran bewegen sie ihre Hände, lassen sich hochheben, aber irgendwie landen sie doch immer wieder bei sich selbst, bleiben vereinzelt, obwohl sie Nähe suchen.

"The Slowest Urgency" nennt der heimische Tänzer und Choreograf Philipp Gehmacher sein jüngstes Gruppenstück, das im Rahmen der Wiener Festwochen im weitläufigen Jugendstiltheater im Steinhof-Krankenhauskomplex uraufgeführt wurde. Der Abend hat eine schöne Melancholie, er passt perfekt in den in die Jahre gekommenen Saal, der den Charme eines alten Sanatoriums hat. Die gigantischen Scheinwerfer, die herumstehen und von der Decke hängen, sehen ein wenig wie überdimensionale Heizpilze aus (Lichtdesign: Bruno Pocheron). Zu Beginn ist alles in warmes Sommerlicht getaucht, langsam erwachen die schlafenden Figuren. Sie formen Sandburgen, die nach und nach zu Luftschlössern anwachsen, und sich nur mehr schwer bändigen lassen.

Arme wie Antennen

Neurotisch bleiben Gehmachers Figuren dennoch, konzentriert auf ihr Bewegungsrepertoire, auf die fliegenden Arme, die als Fremdkörper eigenständig zu agieren scheinen. Wie Antennen strecken sie sich in den Raum, sind zaghaft und fordernd zugleich. Gehmachers autistisches Tanztheater, das Pathos nicht scheut und dabei Distanz und Langsamkeit zelebriert, passt erstaunlich gut in die aktuelle Unsicherheit nach den Corona-Lockdowns. Jetzt, wo alles wieder normal sein sollte, aber man trotzdem gestresst ist vom sozialen Alltag. Gehmachers Stück ist eine Überforderungsstudie, die Pandemie schwingt im Hintergrund mit, ohne direkt zur Sprache zu kommen. Eher geht es um ein Herantasten an das seltsame Phänomen Zeit.

Alles könnte in der Schwebe bleiben, man schaut der getanzten Ratlosigkeit auf der Bühne gern zu. Der Sound von Peter Kutin reicht von brechenden Wellen bis zu durchaus tanzbaren Melodien. Leider haben die je zwei Performer und Performerinnen auch Textfragmente geschrieben, die sie über Mikro vortragen. "Wir glauben, wir kennen die Welt, wir glauben, wir kennen uns selbst, doch das tun wir nicht." Von einem Gefühl der Dringlichkeit ist da die Rede, vom Rasten als radikaler Handlung, vom Heilen der eigenen Handlungsfähigkeit. Das ist schrecklich banal, gerade weil es so bedeutungsschwer daherkommt. Es nimmt dem Abend mehr, als es ihm gibt. Es verpasst ihm eine betuliche Schwere, die gar nicht nötig wäre. Die Zeit vergeht nämlich erstaunlich schnell an diesem doch sehr langsamen Abend.