Ein sorgenfreier Start nach Plan sieht anders aus als der von Bogdan Ročić als Direktor der Wiener Staatsoper. Es sollte nicht ein Plan werden, den der neue Hausherr am Ring in seiner ersten Saison umsetzen konnte, es sollten gleich mehrere werden. Planen, umplanen und wieder neu planen lautete nicht nur an der Staatsoper die Devise in Corona-geprüften Zeiten. Die Richtung, in die er die Staatsoper führen wird, hat Ročić jedoch auch mit den wenigen Pflöcken klar markiert, die die Pandemie zugelassen hat. Was sein erstes Jahr über die Amtszeit des 57-Jährigen aussagt: eine Einordnung.
Dirigate Es klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht: Wien hat seit September 2020 wieder einen Musikdirektor. Und mit Philippe Jordan sogar einen enorm präsenten. Gleich mit der ersten (aus London übernommenen) Premiere im Herbst, Puccinis "Butterfly", hat er sein Revier im besten aller Sinne markiert: Es ist kein revolutionärer Zugang, für den die Wienerinnen und Wiener Jordan feiern, es sind Klarsicht, penible Detailarbeit und ein emotional dichter Sound.
Erfreulich auch, dass Jordans Vorgänger in dem Amt zu einer Rückkehr ans Haus bewogen wurde - nämlich Franz Welser-Möst. Er hatte sich mit Dominique Meyer, Ročićs Vorgänger, überworfen und die Staatsoper 2014 jählings verlassen. Wie sehr der streitbare Spitzendirigent eine Strauss-Opern mit Spannung aufzuladen vermag, lässt sich nun endlich wieder in Wien erleben. Apropos Abgang im Zorn: Auch Bertrand de Billy, der 2014 nach einem öffentlichen Zank mit Meyer das Weite suchte, ist dem Haus nun wieder gewogen, was in dieser Saison ganze zwölf Abenddienste zur Folge hatte.
Ein außerordentliches Debüt gab es zudem im Orchestergraben: Der Concentus Musicus bewies bei Monteverdis "Poppea" unter der Leitung von Pablo Heras-Casado, wie kraftvoll und üppig an Klang und Farben die sogenannte Alte Musik - bei entsprechend großer Besetzung - auch in der Wiener Staatsoper klingen kann. Hier tut sich auch etwas in Sachen Aufführungspraxis.
Premieren Schnelles Erneuern des Repertoires stand ganz oben auf der Prioritätenliste von Bogdan Ročić. Diesen Plan hat er trotz Pandemie zügig umgesetzt. Dass sich ein Großteil der Wiener Premieren aus Übernahmen von anderen Häusern zusammensetzte, dürfte sich während der Pandemie als vorteilhaft bei der Vorbereitung erwiesen haben. Zudem hielt diese Programmpolitik das Risiko des künstlerischen Scheiterns gering - handelte es sich doch um bereits jahrelang erprobte und/oder preisgekrönte Inszenierungen aus etlichen Landen wie Hans Neuenfels "Entführung aus dem Serail" oder Calixto Bieitos Opernweltbummler "Carmen". So ganz und gar neu produziert wurden nur zwei Titel in Wien, nämlich Wagners "Parsifal" und Hans Werner Henzes "Das verratene Meer". Beide Premieren - pandemiebedingt vor leeren Reihen für die Kameras aufgezeichnet - haben in den Feuilletons reüssiert. Eine Live-Konfrontation mit dem Wiener Publikum steht freilich noch bevor.
Regie Es sind neue, zeitgenössische Wege, die Ročić in Sachen Regie einschlägt. Den Begriff Musiktheater nimmt er ernst, Klang und Optik sind ihm ebenbürtige Partner. Seine Premieren zeigen allerdings auch das Risiko auf, das in diesem Weg steckt. Simon Stones Sicht auf die "Traviata" etwa, mit Chatnachrichten und Emojis auf gigantischen Videowänden, hüllt den Verdi-Stoff zwar in ein höchst aktuelles Gewand, schleppt aber auch jene Trivialitäten der Gegenwart in die Oper ein, die man nur allzu gerne an der Garderobe abgibt.
Filmisch und episch sind die Bilder auch in anderen Produktionen, sei es in der Cinemascope-"Butterfly" von Anthony Minghella oder bei Jan Lauwers aus Salzburg übernommener, mit viel Tanz durchzogener "Poppea". Auch Frank Castorfs "Faust"-Regie (aus Stuttgart) bietet mit viel Video-Technik im Hintergrund einen beeindruckend vielschichtigen Musitheaterabend. Nahezu abendfüllend füttern breitflächige Video-Bilder im "Parsifal" von Theater-Star Kirill Serebrennikov den Blick - eine hochgradig opulente, im Detail gleichwohl subtile und charismatische Regiearbeit, die zu den Glanzlichtern der Saison gerechnet werden darf. Auch Dmitri Tcherniakovs international viel gereister und gespielter "Onegin" passt in diese Kategorie: große und klassische Bilder mit feiner, psychologisierter Personenführung.
Eine Art Hausregisseur wird die Staatsoper künftig in Barrie Kosky erhalten, einen Vorgeschmack lieferte in dieser Saison sein reduziert düsterer "Macbeth" aus Zürich. Ganz zünden wollte der Abend in Wien allerdings noch nicht.
Sänger Es sind jedenfalls durchwegs charaktervolle, kraftvolle und alles andere als austauschbare Stimmen mit großem darstellerischen Potenzial, die Ročić ans Haus geholt hat. Ensemblepflege und -aufbau sind ihm offenbar ebenso ein Anliegen wie große Namen. Verglichen mit den Vorjahren, die dem Publikum vor allem schlanke und helle Stimmen bescherten, ist dies ein Gewinn an Farben und Tiefenschichten. Die neuen Sänger im Ensemble sowie des frischen, jungen Teams konnten bisher freilich nur Kostproben ihres Talents abgeben. Freddie De Tommaso fällt hier mehrmals sehr erfreulich auf, Slávka Zámečníková ebenfalls.
Dass große Namen wie Juan Diego Flórez, Piotr Beczała, Jonas Kaufmann, Asmik Grigorian und Anna Netrebko die Bühne neu und weiterhin als Gäste beehren, ist kein Nachteil. Für die idealen Partien setzt Ročić diese Zelebritäten jedoch nicht immer ein - Anna Netrebko etwa konnte zwar als Tosca, nicht aber als Lady Macbeth glänzen.
Tanz Dem neue Ballettdirektor Martin Schläpfer gelang die Balance zwischen klassischen und zeitgenössischen Zugängen. Mit seinem "Mahler"-Projekt zeigte er sich als feinfühliger Choreograf, der das Staatsballett bildstark ins Heute führen kann.
Oper für junges Publikum Das Angebot für ein junges Opernpublikum fiel pandemiebedingt mager aus. Die "Zauberflöte für Kinder" in der Dekoration des Opernballs konnte, wie der Ball selbst, nicht stattfinden. Die einzige Produktion in diesem Bereich, "Der Barbier für Kinder", fand zwar im großen Haus statt, erwies sich aber leider als kunterbunte, einfallslose Schablone, die Kinder als Publikum unterschätzt.
Repertoire Dass von Ročićs Saisonplänen nur ein "Scherbenhaufen" übrig blieb, wie er selbst sagte, gilt vor allem für den Repertoire-Betrieb: Der Lockdown sorgte ab November rund sechs Monate für geschlossene Operntüren; die TV-Aufzeichnungen waren dann vor allem für Prestige-Premieren reserviert. Nur wenig Repertoire schaffte es in dieser Zeit auf den Schirm; was stattfand, wurde oft mit ungewohnter Kurzfristigkeit disponiert. Das konnte so weit gehen, dass die Kritiker am Nachmittag zu einer "Figaro"-Aufzeichnung am gleichen Abend eingeladen wurden.
Die Regiearbeiten, die die neue Direktion aus dem Fundus geholt hat, sind veritable Klassiker: die "Tosca" von Margarethe Wallmann, auch die "Elektra" in der Inszenierung von Harry Kupfer, deren Bewegungsregie bei der Wiederaufnahme unverhofft drahtig geriet. Erfrischend auch, dass Ročić den "Don Carlos" in der Lesart von Regietheater-Legende Peter Konwitschny reaktiviert hat. Dabei erzielte diese Wiederaufnahme eine überraschende Wirkung, denn sie entzweite das Publikum ähnlich stark wie die Premiere 2004. Auf den Schlussvorhang folgte ein Scharmützel zwischen Bravo- und Buhrufen. Eine Aufführung mit Erinnerungswert - und ein Beweis dafür, welche Gefühlsintensität ein Opernabend auszulösen vermag, der nicht mit sattem Zufriedenheitsapplaus endet.
Pandemie/Digitales Angebot Die Staatsoper hat - im Unterschied zu anderen - schnell reagiert auf die Schließungen und den Weg zu ihrer Klientel geändert: Die Premieren wurden gestreamt sowie via ORF übertragen. Ein kluger Schachzug, um sowohl den Kontakt zum Publikum als auch zu den Künstlern nicht zu verlieren. Die digitalen Einführungsmatineen, die dafür entstanden sind, erwiesen sich als voller Erfolg, sie dürfen nach der Pandemie bleiben. Die Digitalisierung nutzte das Haus aber auch für eine ungewohnte Aktion: Die Architekturführungen, bei denen sich Besucher selbst mittels QR-Codes durch das Gebäude lotsen konnten, brachten neues Publikum und verankerten die Oper ein Stück mehr in der Stadt. Damit hat Ročić eines seiner Kernziele, nämlich das Haus zu öffnen, trotz widrigster Umstände zumindest ein klein wenig umsetzen können.
Insgesamt Respekt: Künstlerisch hat Ročić weitaus mehr bewegt, als unter den Pandemiefesseln denkbar schien. Wie seine Programmpolitik beim Publikum ankommt, wird sich aber erst ab Herbst herauskristallisieren - wenn die Sänger, so Delta und Co. es zulassen, wieder an jedem Abend vor vollem Saal spielen.