Sieben verschobene Premierentermine mussten die Tänzer des Hamburg Balletts und dessen Chef John Neumeier durchtauchen, bis die für das Beethoven-Jubiläum im Jahr 2020 geplante Choreografie, "Beethoven-Projekt II", endlich im heurigen Mai in Hamburg uraufgeführt werden konnte. Nun gastierte Neumeier im Theater an der Wien: ein perfektes Entree für die beginnende Ballettsaison.
Der meisterhafte Geschichtenerzähler Neumeier verzichtet in beiden Beethoven-Projekten auf eine nacherzählbare Handlung, verteilt keine Rollen. Identifizierbar ist lediglich der herausragende Aleix Martinez. Als Beethovens Alter Ego beherrscht er den ersten Teil des Abends. Hautnah lässt er Einsamkeit und Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, die Lebensfreude und das Liebesleid einer Künstlerseele spüren. Zugleich erinnert Choreograf Neumeier daran, dass auch er ein Jongleur zwischen Kunst und Leben ist. Die pandemiebedingten Einschränkungen, fast als Liebesverbot erfahren, haben das "Beethoven-Projekt II" geprägt. Für den ersten Teil, "Hausmusik", verwendete Neumeier Werke aus der Zeit, als Beethoven in Wien-Heiligenstadt seine beginnende Taubheit kurieren wollte und sein "Testament" verfasste. Zwei Solosonaten (Anton Barakhovsky, Violine; Hanni Liang, Klavier) werden mit Ausschnitten aus dem Oratorium "Christus am Ölberge" kombiniert, ergreifend gesungen von Neumeiers Wunschtenor Klaus Florian Vogt.
Erstaunlich, wie stringent Neumeier Beethovens Genie erfasste und nacherzählt. Die zentrale Figur ist in beiden Projekten dieselbe, es gibt keine Brüche.
Neumeiers ewige Frage - wie besteht der Künstler in der alltäglichen Welt? - ist stets präsent. Der Mensch Beethoven, der leidende Künstler steht im Mittelpunkt der intimen ersten Hälfte, die von großartigen Pas de deux geprägt ist. Neumeier überrascht mit neuem Tanzvokabular, zeigt komplizierte Verschlingungen, imponiert mit gewagten Hebungen. Wie beinahe allen zentralen Figuren seiner Choreografien hat Neumeier auch Beethoven/Martinez einen Begleiter beigegeben.
Meisterwerk
Jacopo Bellussi ist ein hinreißend schöner, mit nacktem Oberkörper tanzender Engel. Kostümbildner Albert Kriemler hat für die Damen raffinierte durchscheinende Kostüme entworfen, anfangs ist das weibliche Ensemble in schwarze Schleier gekleidet, die Solistinnen tragen bunte Roben. Im zweiten Teil sind die Qualen des unglücklichen Komponisten vergessen, das Damenensemble wirbelt im strahlenden Weiß über den Tanzboden, die Herren tragen schimmernde dunkle Röcke, der Oberkörper bleibt frei.
Im zweiten Teil, zu Beethovens Siebenter Symphonie, ist aller Kummer und Harm vergessen, es geht nur noch um die Kunst, den Tanz. Das Ensemble strahlt pure Tanzfreude aus, galoppiert quer über die Bühne, dreht sich im Reigen, gerät nahezu in Raserei, findet Trost und Genesung, Liebe und Gemeinschaft im Tanz. Das Publikum im ausverkauftem Theater an der Wien ist sich hörbar einig: Mit "Beethoven-Projekt II" hat Neumeier ein Meisterwerk geschaffen.